Lebende Tote

Wie modern ist die Wiener Burg? Zur Uraufführung von „Klaras Verhältnisse“

Auch das Burgtheater in Wien ist im Grunde eine sehr zeitgenössische Bühne. Wer wolle denn behaupten, dort huldigten ausschließlich ältere Herren noch älteren, bevorzugt sehr toten Herren (Tschechow und Grillparzer und Calderón und Euripides und Wedekind und Rostand und Shakespeare und Schnitzler und Buñuel und Tschechow). Gegenbeweis: Letzten Freitag wurde im Akademietheater (dem kleinen Haus) „Klaras Verhältnisse“ uraufgeführt, ein Stück der lebenden, 35-jährigen, weiblichen Autorin Dea Loher. Inszeniert von der 30-jährigen, lebenden, weiblichen Regisseurin Christina Paulhofer. Selbst im Stück herrscht pure Gegenwart: die ganz durchschnittlich unklaren Verhältnisse deutscher Normalbürger jenseits der dreißig.

Im Zentrum Klara, die am klarsten der deutschen Misere entgegentritt: Als „technische Redakteurin“ – sprich: Verfasserin von Gebrauchsanleitungen wichtiger Geräte wie Bügeleisen oder Waschmaschinen – provoziert sie ihre Kündigung. Nun ist sie arbeitslos, ohne Geld. Sich weigernd, ein „Fall für das dichte soziale Netz“ zu werden, „für das dieses Land berüchtigt ist“, fordert sie vorübergehend Hilfe von ihrer Umwelt – die sich davon hoffnungslos überlastet zeigt.

Da wäre ihre ältere Schwester Irene, „MTA mit Auszeichnung“, Kind und Bankangestellten-Gatten Gottfried, ihr Freund Thomas mit wechselnden Jobs und Zweitgeliebter oder auch ein später auftauchender Arzt. Die Männer laben sich an Klaras unkonventioneller Lebendigkeit, die zurückbleibenden Frauen tröstet die Entdeckung ihrer lesbischen Neigung zueinander.

Nichts ist klar in den scheinbar so sicheren Lebensentwürfen dieser Durchschnittsbürger, nichts wird klar in den 17 Szenen des Dramas. Darin gerade liegt die Qualität dieses neuen Textes von Dea Loher. Erstmals konfrontiert die Autorin ihre Figuren nicht mit tragischen Extremsituationen wie Folter, Inzest, Mord. Erstmals entdeckt sie die tragische Fallhöhe in der Gewöhnlichkeit bürgerlichen Alltags, in der Isolation des Einzelnen innerhalb des ganz normalen Egoismus einer Gesellschaft, die das Geben verlernt. Erstmals auch durchzieht eine zarte Komik die Dialoge.

Immer wieder setzen die Figuren zu langen Monologen an, in denen sie – häufig im literarischen Imperfekt – von Träumen, Ängsten, Erfahrungen berichten, gewissermaßen aus der Handlung tretend, um sich dem Zuschauer zu erklären. Da stellt sich die Frage, ob diese Erklärungswut notwendig ist, man den Figuren ihre Geheimnisse nicht belassen sollte. Entscheidet man sich jedoch – wie Christina Paulhofer in der Uraufführungsinszenierung – für die im Wesentlichen ungekürzte Wiedergabe der Monologe, bedarf es einer Inszenierungsidee, die die Trennung der Sprachebenen aufnimmt.

Am Fehlen einer solchen Lösung krankte denn auch der Abend am Akademietheater. Immer wieder heben die Schauspieler inmitten der realistischen Raum-Kuben – Küchen, Wohn- und Hotelzimmer –, die von oben und aus der Versenkung einschweben (Bühne: Alex Harb), zu somnambulen Exkursen an – weshalb ihre Figuren zwischen realistischer Zeichnung und poetischer Überhöhung im Niemandsland der Unkenntlichkeit verblassen. Allein gelassen dazwischen: Judith Hoffmanns Klara – eine Frau mit Eigensinn, Energie und großer Einsamkeit. Allein gelassen wie Christina Paulhofer von ihrem Produktionsdramaturgen. Fast will sich doch der Verdacht einschleichen, am Burgtheater huldige man bevorzugt den ganz toten, alten ... Nein: Das Burgtheater stellt sich der österreichischen Herausforderung sehr zeitgenössisch. Jawohl, jetzt haben wir den Beweis! Kein Grund zur Klage – oder um es mal mit Klara zu sagen: „Jetzt bin ich doch wieder ganz optimistisch.“

CORNELIA NIEDERMEIER