Wie viel Stimmen fürs Volk?

SPD-Präsidium will präzisere Vorschläge zur direkten Demokratie. Grüne: „Jetzt großen Schritt für die Demokratie tun.“ Wissenschaft: Volk entscheidet sparsamer als Parlamente

BERLIN taz ■ Der Vorstoß des SPD-Generalsekretärs Franz Müntefering, durch Volksentscheide auch auf Bundesebene mehr Demokratie zu wagen, ist nicht nur in seiner Partei auf ein geteiltes Echo gestoßen. In der taz streiten heute der Politologe Otmar Jung und Redakteur Daniel Haufler. Versprechen Volksentscheide mehr, als sie halten können? Oder nimmt die Politik ihre Bürger endlich ernst?, fragen die Autoren.

Das SPD-Präsidium hieß Münteferings Reformvorstellungen gestern „im Ansatz gut“ – gleichzeitig müssten sie jedoch weiter präzisiert werden. Die grüne Fraktionssprecherin Kerstin Müller begrüßte Münteferings Idee. Der taz sagte sie, ihre Fraktion wolle „die Chance nutzen, jetzt einen großen Schritt für die Demokratie zu tun“. Müller lud alle Fraktionen ein, sich an einen Tisch zu setzen. SPD-Fraktionschef Peter Struck habe sein Einverständnis signalisiert.

Strucks Parteigenosse Müntefering hatte die Debatte am Sonntag eröffnet. Er schlug vor, die Auswahl von Bundestagskandidaten – wie in den USA üblich – auch Nicht-Parteimitgliedern zu öffnen. Zudem verkündete er, die SPD werde Plebiszite ganz nach Koalitionsvertrag einführen. Bisher ist im Grundgesetz nur ein Volksentscheid bei der Neugliederung des Bundesgebiets vorgesehen.

Innenminister Otto Schily äußerte sich gestern noch nicht; sein Sprecher sagte, die Einführung des Plebiszits im Bund sei noch in dieser Wahlperiode „umsetzbar“.

Die Initiative „Mehr Demokratie“ begrüßte den Vorschlag Münteferings erwartungsgemäß. Der Sprecher der Ini, Oliver Hinz, warnte zugleich vor einem Etikettenschwindel mit dem Begriff Volksentscheid. „Manche verstehen darunter umständliche Verfahren, die eher Himalaya-Touren gleichen.“ Die Initiative will 2001 eine bundesweite Kampagne für die Volksabstimmung starten.

Hinz mahnte an, die hohen Unterschriftshürden abzubauen, die bisher zur Einleitung von Volksbegehren zu überwinden sind. Zudem müssten die BürgerInnen das Recht erhalten, „auch über die Verwendung ihrer eigenen Steuergelder abzustimmen“. In den Bundesländern ist es ausdrücklich nicht vorgesehen, dass Volksentscheide das Budget berühren. Hinz nannte dies widersinnig – Erfahrungen aus Bayern, den USA und der Schweiz zeigten: Die BürgerInnen gehen bei Plebisziten sparsamer mit den öffentlichen Budgets um, als es die Parlamente tun.

Das bestätigte der Fribourger Professor für Volkswirtschaft, Reiner Eichenberger. „Die Vorteile der direkten Demokratie sind heute wissenschaftlich gut belegt“, sagte Eichenberger, der empirische Analysen von Volksgesetzgebungen verglichen hat. Ergebnis: „Je umfassender die Volksrechte sind, umso niedriger ist die Verschuldung und umso effizienter ist der öffentliche Sektor.“ Die BürgerInnen seien laut Umfragen dann zufriedener. Eichenberger sagte, die Verschuldung öffentlicher Gebietskörperschaften, die Bürgerentscheide über das Budget zulassen, sei um 45 Prozent niedriger als bei rein repräsentativen Systemen. cif

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