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die jazzkolumneNenn es Harmolodics: von Ornette Coleman zu Joachim Kühn

DER SOUND DER SYSTEME

Was Ornette Coleman dann später spielte, war hip. Das hat Miles Davis ihm zumindest gesagt. Doch zuvor hatte Miles, der Trompeter, mit seiner Platte „Milestones“ die modale Improvisation im Jazz angekündigt. „Kind of Blue“, im Frühjahr 59 aufgenommen, wurde dann zum definitiven Meisterwerk dieser neuen Jazzsprache.

Ihm war die Luft zu dünn geworden, hatte Miles erklärt, infolge des Bebop hätten sich zu viele Akkorde auf kleinstem Raum breit gemacht und den Improvisationen den Sinn genommen. Dass vertikale Improvisieren entlang von Akkordfolgen war das übliche Gesprächsmuster bis dato, jetzt plädierte Davis für die Befreiung aus diesen Formen. John Coltrane, Tenorsaxophonist der Davis-Band bei „Kind of Blue“, machte gleichzeitig auf seiner eigenen Platte ein ähnlich dringendes Statement: „Giant Steps“ hielt der Akkordfraktion im Jazz zum letzten Mal den Spiegel vor.

Modal bedeutete aus Sicht der Hörer vor allem die Rückkehr zur Melodie, die Musiker kommunizierten nun horizental im Rahmen zuvor festgelegter Tonskalen. Miles Davis wollte, dass sie in ihren Improvisationen dem Fluss der Melodie folgen sollten, und so gelang es, eine ganz bestimmte Atmosphäre zu gestalten. Durch die bei „Kind of Blue“ erzeugte Stimmung wurde der moderne Jazz definiert.

Die Aufnahmesession war wie ein Experiment angelegt gewesen. Die Musiker kannten die Stücke vorher nicht, Davis hatte sie teils erst kurz vor dem Termin zu Papier gebracht, eigentlich nur skizziert. Er wollte keine Proben, sondern „first takes“, also keine Wiederholungen der Aufnahmen.

Für diese Unternehmung hatte Miles zwei Pianisten engagiert: den Neuen, Wynton Kelly, als Bluesdoktor für „Freddie Freeloader“ und Bill Evans, den noch einmal Zurückgeholten, für die anderen Kleinode dieses Meisterwerks, die allesamt zu großen Standards der Jazzgeschichte wurden: „So What“, „Blue In Green“, „Flamenco Sketches“ und „All Blues“. Und für die Liner Notes, in denen Evans erläutert, was bei dieser Platte anders gemacht wurde.

Nur: Was er da als „einfache Figur“ beschreibt, die einer Einleitung von Piano und Bass folgt und auf 32 Takten und zwei Tonleitern basiert, bleibt dann doch sehr weit entfernt von der poetischen Qualität der hier gemeinten „So What“-Einspielung. Noch herrscht Sprachlosigkeit ob so viel Schönheit.

Diese Aufnahmen klingen, als seien sie im Himmel produziert worden, sagte Schlagzeuger Cobb fassungslos, als er das Ergebnis der Session hörte. 1959 war das Jazzjahr der großen Hymnen, die bis heute an Intensität und Präzision nichts verloren haben, sie sind andauernd wirksam.

Es sei Ornette Coleman wohl auch kaum möglich, spekulierte mal ein Kritiker, über seine Musik zu sprechen, ohne das Wort Liebe zu gebrauchen. Musik sei etwas für das Gefühl, so Coleman über seine Platte „The Shape Of Jazz To Come“, ein weiteres 59-er Statement für ein neues Formverständnis und die Suche nach der Erweiterung des emotionalen Ausdrucks im musikalischen Jazzvokabular, ein Grundstein für das, was kommen sollte: Free Form.

Colemans Kompositionen „Lonely Woman“ und „Peace“ sind einzigartige Plädoyers für die lyrische Freiheit in dieser Musik. Mit „Congeniality“, das er ursprünglich einem Wanderprediger gewidmet hatte, wollte er das besondere Verhältnis des Musikers zu seinem Publikum ausdrücken. Bei Coleman sagen die Titel, was er meint. Und die Sechs-CD-Box „Beauty Is A Rare Thing“ mit Aufnahmen aus Colemans Anfangsjahren ist nach wie vor eines der schönsten Liebesgeschenke aus Jazzmusik, das man machen kann.

Der Pianist Joachim Kühn kam über die Ornette-Coleman-Platte „This Is Our Music“ zum Jazz. Das wird so 1960 gewesen sein. Kühn lebte damals noch in Leipzig, sechs Jahre später floh er über Hamburg nach Paris und spielte in der Band des Trompeters Don Cherry, Mitbegründer des legendären Ornette Coleman Quartets.

Kühn gibt zu Protokoll, dass Ornette Coleman und Don Cherry exakt die Musik machten, die er auch spielen wollte. Sie improvisierten gänzlich ohne Akkordwechsel, und ihre Musik swingte auch ohne die bewährten Rhythm Changes. Ornette Coleman entwickelte daraus ein System, das er Harmolodics nennt. Es zielt darauf, in der Art und Weise des musikalischen Ausdrucks keinerlei Beschränkungen mehr unterworfen zu sein. Seine Message lautet: Remove The Caste System From Sound. Diese Musik klingt manchmal so, als würden zwei verschiedene Platten gleichzeitig laufen.

Coleman trug schon lange Haare und Bart, Jahre bevor Dreadlocks zur schwarzen Haarmode wurden. Er komponierte Streichquartette, Holzbläserquintette und für Ballett und Symphonieorchester, ohne dafür diplomiert zu sein. Anfang der Siebziger reiste er nach Afrika, um dort mit lokalen Musikern sein Harmolodics-Konzept zu erweitern. In den Achtzigern nahm er mit Pat Metheny „Song X“ und mit Jerry Garcia „Virgin Beauty“ auf.

Drei Jahrzehnte kommt Colemans Musik ohne Klavier aus, bis er auf einmal Aufnahmen mit der jungen Pianistin Geri Allen veröffentlicht. 1996 lernen sich dann Ornette Coleman und Joachim Kühn kennen, die Duo-CD „Colors“ dokumentiert den Beginn einer Freundschaft. Seitdem lädt Coleman den Pianisten regelmäßig nach New York ein, um mit ihm in seinem Harlemer Studio zu proben.

Coleman ermutigte und inspirierte Kühn dazu, auch ein eigenes Konzept zu erfinden. Vierzig Jahre nach „Kind Of Blue“ und „The Shape Of Jazz To Come“ präsentiert Kühn nun seine Ordnung der Dinge. Was er auf seiner in diesen Tagen veröffentlichten CD „The Diminished Augmented System“ vorstellt, kommt ohne Dur- und Moll-Akkorde aus, die Improvisationen sind vor allem soundorientiert. „The Diminished Augmented System“ eröffnet eine wundersame Hörwelt voll von düster-wilden Klängen und schlaflos-schöner Melodik.

Unter den zeitgenössischen Jazzpianoaufnahmen ist diese Solo-CD mit Kompositionen von drei Märzgeburten – Kühn, Coleman und Johann Sebastian Bach – ein bestechendes Juwel. Kühn spielt große Energie auf hohem Niveau, präzise und hart, seine Bachinterpretationen sind von besessener Kühle, keine Sekunde wird verklimpert.

Joachim Kühn hat diese CD Ornette Coleman gewidmet, der am 10. März dieses Jahres mit Live-Webcast und allerhand hippen Gästen seinen 70. Geburtstag feierte (die Webseite ist abrufbar unter, na was wohl: www.harmolodic.com).

CHRISTIAN BROECKING

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