Spritzpisser oder Sitzpisser

Eine tiefe Pissrille trennt die Republik exakt an der Linie des früheren Mauerverlaufes. Ein nassforschender Bericht

von UTE SCHEUB

Ist er vielleicht selber ein überzeugter Sitzpinkler? Oder wie kam der Geschäftsführer der städtischen Radeburger Wohnungsgesellschaft mbH dazu, männlichen Mietern das Stehpinkeln zu untersagen? „Im Rahmen eines Sachverständigengutachtens wurde festgestellt“, heißt es in Claus Burckhardts Brief an die Bewohner von 485 Plattenbauwohnungen in Radeburg bei Dresden, „dass Urinspritzer zum Rosten der Heizkörper führen (Sprühbereich). Um diese Ursache auszuschließen, darf die Toilette grundsätzlich nur im Sitzen benutzt werden.“ „Steh-Pinkel-Verbot“, titelte Bild in fünf Zentimeter hohen Lettern. Die Republik geriet in Aufregung, das Abendland drohte unterzugehen – in der Kloschüssel.

Doch der mutmaßliche „Sitting-Bull“ Burckhardt ist für die Presse nicht mehr zu sprechen. Nur noch Sachbearbeiterin Kranert. „Diesen Trubel wollten wir nicht“, stöhnt sie am Telefon. „Es stimmt doch gar nicht, wie es Bild darstellt, dass die Männer unter unseren Mietern nur schimpfen. Wir haben viel positive Resonanz, nicht nur bei den Frauen. Mehr als 50 Prozent der Männer wollen sich hinsetzen.“

Die Sachbearbeiterin verweist auf ein Gutachten, das im Auftrag der Wohnungsgesellschaft erstellt wurde. Ergebnis: Die meist nur zwanzig Zentimeter von der Toilette entfernten Heizkörper verrosten bei Stehpinkelei vorzeitig, weil die aggressive Harnsäure die Lackschicht zerstört. „Natürlich können wir unsere Mieter nicht überwachen, ob sie sich an unsere Bitte halten“, sagt sie. „Aber wenn bei einem Auszug Schäden nachweisbar sind, müssen die Verursacher sie bezahlen.“

Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie Mieter in Radeburg wären? Eine Blitzumfrage unter westdeutschen und ostdeutschen Männern förderte interessante Unterschiede zu Tage. Peter M., Anwalt, Ossi und überzeugter Stehpinkler: „In die Knie gehen? Niemals! Lieber würde ich beim Auszug den Schaden bezahlen. Oder, noch besser, einen Plastikschutz vor die Heizung hängen.“ Jörg L., von Beruf technischer Zeichner: „Wir im Osten haben immer im Stehen gepinkelt. Sitzpissen? Das kommt doch alles aus dem Westen.“ Sein Freund, der Bauingenieur Frank M., meldet noch schärferen Protest an: „Das ist ja wie früher! Ideologische Indoktrination!“

Nur Stehpinkeln erlaubt mathematische Gedanken

Ebenfalls ein aufrechter Spritzpisser: Jürgen Kuttner, Kult-Moderator von „Radio Fritz“ in Potsdam. Radiofritze Kuttner schwärmt von „der Ästhetik des Strahles in Parabelform“, die von der „Erdschwere“ geformt werde. Beim Stehpinkeln, und nur dort, könne man „mathematische und philosophische Gedanken entwickeln“. Kuttner streitet nicht ab, dass sein Verhalten unhygienisch ist. Hier handele es sich halt um einen „klassischen Konflikt zwischen Ethik und Ästhetik“. Aber in diesem Fall sei er nicht traurig darüber, dass die DDR „immer das deutschere Deutschland“ und deswegen resistent gegen „diese aus Amerika kommende schwachsinnige PC-Diskussion der privatesten Verhältnisse“ gewesen sei.

Ganz anders hört sich das männliche Stimmengewirr dagegen im Westen an. Ein Graben, sozusagen eine tiefe Pissrille, trennt die Republik exakt an der Linie des früheren Mauerverlaufes. Sind Wessi-Männer nicht nur von PC gebeutelt worden, wie Jürgen Kuttner vermutet, sondern noch mehr vom Terror der FC, der feministischen Correctness? Sind sie gebeugt, gekrümmt, bis zum Kloschüsselrand darnieder gedrückt und gedemütigt worden? Haben sie nach jahrzehntelanger weiblicher Gehirnwäsche den aufrechten Gang, nein Stand, völlig verlernt? Haben in linken Wohngemeinschaften hausende, kreischende und feudelschwingende Weiber der männlichen Gattung West ein schweres Kollektiv-Trauma beschert? Die Ergebnisse der Blitzumfrage sprechen dafür.

Der Altlinke Thomas S. zum Beispiel scheint ein klassischer Fall für die von Sigmund Freud entdeckte „Identifikation mit dem Aggressor“ oder in diesem Fall mit den Aggressorinnen zu sein. „Frauen haben mir beigebracht“, sagt er,„dass Stehpinkeln einfach unhygienisch ist. Ich sitze nicht gern im Urin anderer Leute. Außerdem bin ich nur so ein Vorbild für den kleinen Jungen, mit dem ich in der WG zusammenwohne.“ Dessen Mutter, berichtet er, schaue gerne kontrollierend durch einen kleinen Spalt in der Badezimmertür, ob ihr Sohn auch wirklich sitze.

Auch Patriarchatskritiker Peter Döge findet den Ukas von Radeburg eine „tolle Entscheidung“. Er fahre sehr viel mit der Bahn, und dort auf das Örtchen zu müssen, sei jedes Mal eine Zumutung: „Der Zug wackelt, alles ist verspritzt, sämtliche Passagiere müssen durch eine eklige Lache waten. Ich warte nur darauf, das die Deutsche Bahn endlich mal ein Stehpinkel-Verbot verhängt.“ Der Männerforscher hat seine Form der Urinade von seinem Vater gelernt: „Der hat es auch immer im Sitzen gemacht, und ich habe das selbstverständlich übernommen. Väter sollten mehr darauf achten, Vorbild zu sein.“

Auch Medienfachmann Christoph F. traut sich nach eigenem Bekunden nicht, sich vor ein Klo zu stellen, „ich geh immer gleich in die Knie“. Doch als Mieter in Radeburg würde er „angesichts einer derart massiven Bedrohung der Freiheit meiner Persönlichkeitsentfaltung sofort vor das Bundesverfassungsgericht ziehen“. Die Pisstropfen von Radeburg brächten hier „das Fass oder Klo zum Überlaufen“, denn damit werde „der feministische Männerterror auch noch in Gesetzesform gegossen“.

Interessant ist auch die Sichtweise des Mieteranwalts und bekennenden Pisssitters Ernst M. Wenn ein Radeburger Stehpinkler ihn fragen würde, was er tun solle, „würde ich denken: Du dummer Pisser.“ Dennoch würde er seinem Mandanten sagen, dass er seine „bisherige, ihm nun mal anerzogene Pinkelgewohnheit beibehalten“ könne. Die Radeburger Wohnungsgesellschaft würde er auffordern, ihre Heizkörper zu versetzen. „Die Kultur muss das Recht formen, nicht umgekehrt“, so Ernst M. „Sonst kommt eines Tages noch ein anderer Vermieter auf die Idee, Badewannen mit nur zwanzig Zentimeter Tiefe oder Küchen im Wandschrank des Schlafzimmers zu montieren.“ Andererseits: Wenn er selbst im sächsischen Radeburg Mieter wäre, so der durch alle Fegefeuer weiblicher Wohngemeinschafts-Mitglieder gegangene Mieteranwalt, „dann würde ich mich natürlich wie immer hinsetzen. Setzen ist viel sinnlicher. Außerdem kann ich da besser meine Mietrechtsakten lesen.“

Der Soziopsychologe Klaus Schwerma indes hält das Ergebnis dieser Blitzumfrage für ein Zufallsprodukt. Denn nach seinen Recherchen sind Wessi-Männer alles andere als brave Sitzpinkler. Der Männerforscher aus Düsseldorf hat eine einschlägige Diplomarbeit geschrieben, die in vier Wochen als Buch erscheinen wird: „Stehpinkeln, die letzte Bastion der Männlichkeit? Identität und Macht in einer männlichen Alltagshandlung“.

Symbolische Umdeutung: Stehpisser werden Phallus

Eine seiner Grundannahmen: „Jemand, der nicht sauber macht, sorgt sich nicht um Pinkelflecken.“ Zwar hätten in einer Umfrage unter Männern 15 Prozent aller Befragten angegeben, sie würden eigenhändig die Toilette putzen. Als man jedoch die Frauen befragt habe, hätten diese angegeben, nur ein Prozent der Männer würde selber das Pisshäuschen reinigen. Schwerma erklärt den Unterschied damit, dass Putzen nun mal als Frauensache wahrgenommen werde. Wenn Männer ausnahmsweise mal zu Feudel und Klobürste griffen, bleibe dieses „außerordentliche Ereignis“ in ihrem Gedächtnis viel stärker haften.

Der Männerforscher hat auch untersucht, warum eigentlich so viele Vertreter seines Geschlechts Stehpinkeln mit Männlichkeit gleichsetzen. Seine These: „Männer glauben, dass ein Mann immer können müsse. In einer Situation, in der der Penis nicht steif ist und nicht steif sein darf, nehmen sie eine symbolische Umkehrung vor: Sie werden selber zum Phallus.“

Schwerma: „Der Pimmel hängt, also steht der Mann.“