Intimität der Gewalt

Bruno Dumonts „L'humanité“ reflektiert die Eingrenzungen des Körpers und der Kinobilder  ■ Von David Kleingers

Cinemascope kann – wenn es als gestalterisches Mittel jenseits der bloßen Vergrößerung eingesetzt wird – eine bekannte Perspektive ins beunruhigend Uferlose abgleiten lassen. Der Blick auf vertraute Motive verliert in diesem Bildformat die trügerische Eindeutigkeit fernsehkompatibler Eingrenzungen und zwingt den Zuschauer zur ständigen Neu-Interpretation des Gesehenen.

L'humanité von Bruno Dumont (La vie de Jésus) ist ein Cinemascope-Film, der die Auslegung des eigenen künstlichen Abbilds als schöpferische Knochenarbeit definiert. Zweieinhalb Stunden lang werden die Betrachter unerbittlich zur Exegese der Bilderwelt gezwungen, die sich über einer knappen Erzählung auftürmt: Nahe der im französischen Flandern gelegenen Kleinstadt Ballieul wird die Leiche eines Mädchens gefunden. Der ermittelnde Kommissar ist Pharaon de Winter (Emmanuel Schotté), der bei einem Unfall Frau und Kind verloren hat. Mit seiner Mutter wohnt er in direkter Nachbarschaft zu Domino (Séverine Caneele), einer jungen Fabrikarbeiterin, die ihrerseits mit dem Busfahrer Joseph (Philippe Tullier) liiert ist.

Der Film zeigt uns im Folgenden die selbstauferlegte Isolation Pharaons, die nur durch sporadische Ausflüge mit Joseph und Domino – die er heimlich begehrt – und die Suche nach dem Täter unterbrochen wird. Aus den bleichen Knochen des französischen policier konstruiert Dumont sein narratives Skelett. Doch statt deduktiver Kriminalarbeit gibt es hier nur die konzentrische Bewegung um das Unfassbare, an dessen Dimensionen Pharaon zu zerbrechen droht. Mit seinem verschwiegenen Pro-tagonisten kehrt der Film immer wieder zu den selben Schauplätzen zurück: die karge Wohnung Pharaons, die rote Backsteinmauer vor Dominos Haus, die schroffe Küstenlandschaft und der von Ackerflächen umfriedete Tatort neben der Bahnstrecke. Dort verstummt der Verzweiflungsschrei des Polizisten im Gebrüll eines vorbeirasenden Zugs.

Wenn der passive Pharaon aus seinem schützenden Hospitalismus ausbricht, dann sucht er die unmittelbare Nähe seiner Mitmenschen, doch zu eng scheint die körperliche Intimität mit der sexuellen Gewalt des Verbrechens verknüpft. So wird etwa das Bild des vergewaltigten und ermordeten Mädchens mit dem Blick auf das Geschlecht Dominos analogisiert – ob nun in der um motivische Konsistenz ringenden Wahrnehmung des Zuschauers oder tatsächlich aus einer intendierten Erzählposition heraus, ist eine der vielen Fragen, die L'humanité aufwirft. Denn außer der titelgebenden „Menschlichkeit“ werden keine thematischen Handreichungen gewährt, um diese fordernde Ikonografie zu entschlüsseln.

Also doch nur über das autarke Kino-Bild meditieren, entsprechend den Reflexionen über die Malerei in L'humanité selbst? Und in einem Aufwasch Dumont in die Erbfolge Robert Bressons aufnehmen – irgendwie radikal-ästhetisch, irgendwie sperrig, irgendwie moralisch? Aber L'humanité verdient mehr Aufmerksamkeit als die bloße Vergewisserung, dass Film etwas mit Kunst zu tun haben könnte. In einer Notiz schreibt Dumont: „Die Prüfung durch das Böse ist notwendig in der Eroberung des Guten und dessen Gewissheit: Das ist der Kampf.“

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, daran gemahnt die Trikolore auf Pharaons Dienstwagen. Wenn L'humanité diesen in bürgerlicher Staatsordnung erstarrten Prinzipien eine organische, schmerzvoll körperliche Empathie entgegensetzt, dann ist das eine offene Herausforderung: Entweder der Zuschauer entscheidet sich für ein existentialis-tisches Mit-Leiden angesichts der Einsamkeit und des unerfüllbaren Verlangens nach Eins- und Ich-Werdung. Oder aber er versucht gegenüber der überbordenden Körperlichkeit des Films eine idealistische und politische Transzendenz einzuklagen. Was sich unter Umständen genauso schmerzhaft gestaltet.

Für die überragenden Darsteller gibt es in den bedrückenden Breitwand-Tableaus von L'humanité jedoch keine Wahl. Dass die Zuschauer diesen Konflikt jedoch neu entscheiden können, gehört zu den hervorragendsten Leistungen dieses zum Glück äußerst anstrengenden Films.

20.30 Uhr, 3001