China fehlt kein Strom aus AKWs

Ausländische AKW-Firmen konkurrieren um Aufträge und werden immer billiger, während China eine Strompolitik entwickelt, die mehr auf Gas und Wasserkraft als auf Atomkraft setzt. Bürgschaften retten Siemens, nicht China

aus Peking GEORG BLUMEund KIRSTIN KUPFER

Sie ist ein internationaler Pilgerort geworden: Auf der chinesischen Atommesse in Peking treffen sich jedes Jahr Großkonzerne wie Siemens, Framatome und Westinghouse, die hier im energiehungrigen China nach neuen Aufträgen für eine aussterbende Branche suchen. Der Eifer der Atomindustrie ist unermüdlich: Insgesamt 54 ausländische Unternehmen, darunter sieben deutsche, waren in diesem März auf der Messe vertreten. Sie bieten an, was ihre Branche zu bieten hat: voll ausgerüstete Leichtwasserreaktoren der neuesten französischen Bauart, deutsche Entsorgungstechnik für radioaktive Abfälle von der Firma Nukem bei Frankfurt und gute Ratschläge aus den USA.

Was die Pekinger Messe in diesem Jahr aus deutscher Sicht besonders spannend machte, ist der Berliner Regierungsstreit um deutsche Hermes-Bürgschaften für die Lieferung von Siemens-Steuertechnik für das AKW Lianyunggang westlich von Shanghai. Die geplanten Reaktoren waren das heiße Thema. Schon verteilen die russischen Hersteller bunte Taschenkalender, auf denen vier Reaktoren – geplant sind bisher nur zwei – abgebildet sind. Dafür ernten sie die neidischen Blicke ihrer chinesischen Kollegen: „Die chinesische Nuklearindustrie kann mit der ausländischen einfach noch nicht mithalten“, erklärt Hu Minggang, technischer Direktor am Atomenergieinstitut der Provinz Sichuan. „Bis unsere Atomindustrie auf sich selbst gestellt existieren kann, werden mindestens fünf Jahre vergehen.“

Hinter Hus Bemerkung versteckt sich der Grundkonflikt zwischen chinesischer und westlich-russischer Atomindustrie. Die Ausländer drängen auf den chinesischen Markt, weil sie unter Zeitdruck stehen: Weltweit droht ihnen Auftragslosigkeit und in China langfristig eine inländische Konkurrenz. Daher auch der Druck, den Siemens bei der Vergabe der Hermes-Bürgschaften auf Bundeskanzler Gerhard Schröder ausübte: Für das bislang ehrgeizigste deutsch-russische Kooperationsprojekt im Atombereich besteht nur so lange eine Chance, wie China noch nicht über eine heimische Reaktorlinie verfügt. Und wäre das Projekt in Lianyunggang jetzt nicht von der Bundesregierung finanziell abgesichert worden, wäre Siemens im Atomsektor in China vermutlich ausgeschieden. Zu viele drängeln sich hier um die wenigen bewilligten Projekte.

Die Devise der Regierung in Peking lautet deshalb: Zeit lassen, um die westlich-russischen Anbieter nervös zu machen und billigere Angebote einzufahren. Derweil setzen chinesische Forscher in aller Ruhe den Aufbau einer eigenen Reaktorlinie fort. Der zuständige Minister Zeng Peiyan von der staatlichen Entwicklungskommission erklärte im März vor dem Nationalen Volkskongress in Peking seine kostenorientierte Atomenergiepolitik: „Wir planen in den nächsten fünf Jahren keinen weiteren Bau von Atomkraftwerken“, sagte Zeng. Im Zuge der Schließungen unrentabler Staatsbetriebe herrsche „momentan kein Strommangel“. Auch beim Bau der bereits geplanten sechs Atomreaktoren unter französischer und deutsch-russischer Beteiligung habe China keine Eile, betonte Zeng. Schließlich entfielen etwa die Hälfe der weltweit neu installierten Stromkapazitäten 1999 auf Naturgasanlagen. Zeng will nun in den nächsten Jahren 25 Milliarden Mark in den Bau einer 4.200 Kilometer langen Gas-Pipeline aus dem rohstoffreichen Westen Chinas nach Shanghai investieren. Das riesige Infrastrukturprojekt beruht auf neuen Regierungsangaben, denen zufolge das Land in der Wüste Gobi über Naturgasreserven in Höhe von einer Billion Kubikmeter verfügt – genug für Jahrzehnte. Gleichzeitig plant China, mit Dammprojekten im Westen seine Wasserkraftnutzung innerhalb von fünfzehn Jahren zu verdoppeln.

So lassen alle großen chinesischen Energiepläne die Atomindustrie links liegen. Derzeit erzeugen die drei laufenden Nuklearreaktoren knapp ein Prozent des Stroms in China, für 2020 sind von der staatlichen Planungskommission fünf Prozent geplant.

Professor Zhang Zhuyi, Vizedirektor am Institut für Nukleartechnologie der Universität Qinghua, gibt aber nicht auf:

Sein Hoffnungsträger ist das neueste Modell eines gasgekühlten Hochtemperaturreaktors mit einer Energieleistung von 10 Megawatt, das noch in diesem Jahr in seinem Nuklearinstitut in Betrieb gehen soll. „Durch seinen besonderen Sicherheitsstandard und die preisgünstige Produktion gilt unser Hochtemperaturreaktor als neuer Trend in der chinesischen Nukleartechnologie“, erläutert Zhang Zhuyi.

Und doch erinnert der Rundgang durch das streng bewachte Atomforschungsinstitut, vor malerischer Berglandschaft unweit der großen chinesischen Mauern, mehr einem Museumsbesuch als einer Führung in die Zukunft. Versuchsreaktoren, die hier vor Jahren Ministerweihe erhielten, werden heute nur noch von Putzfrauen gepflegt. Und so könnte es eines Tages auch dem neuen Hochtemperaturreaktor ergehen, dessen Technik in Deutschland längst als unrentabel verworfen wurde. Gerade diese unsicheren Aussichten der chinesischen Atombranche aber machen die Hermes-Bürgschaft für Lianyunggang so unverständlich: Denn sie führen nicht zuletzt Siemens auf eine Bahn, die in China mehr schief als gerade läuft.