Wer? Rebell oder Großvater?

Was für eine Wahl: Alejandro Toledo bemüht seine indigene Herkunft, Alberto Fujimori den Geheimdienst und teure Werbeagenturen

aus HuánucoINGO MALCHER

Schon längst hatte der Tower den Start freigegeben, aber die Maschine klebt am Boden. „Scheiße, was soll ich tun“, brüllt der kleine Mann mit den dunklen Haaren in sein Mobiltelefon und schnallt mit der Linken den Sitzgurt lockerer. Wild schüttelt er den Kopf. „Wir sind in Huánuco, wir können nicht bei euch landen, weil wir zu schwer sind“, erklärt er.

Wieder mal will einer nicht kapieren. So geht das schon seit Wochen. Fast alle Städte des Landes hat er mühsam nach Wählern durchkämmt. Jeden Tag steigt er in diese achtsitzige Maschine. Leider kann er immer nur an einem Ort gleichzeitig sein. Auch ihm fällt es schwer, das zu akzeptieren. Am Sonntag ist Wahl. Nun darf nichts mehr schief gehen. Aber es ist zum Ausrasten. Himmel! Er kann sich doch nicht vierteilen, schreit er das Telefon an und haut mit der Handfläche auf seine Sitzlehne. „Dann verbinde mich schnell mit einem Radiosender oder irgendwem, dem ich eine Grußbotschaft übermitteln kann, Carajo!“ In den Umfragen liegt Alejandro Toledo im Rennen um das Amt des Präsidenten kurz hinter dem amtierenden Staatschef Alberto Fujimori. Und jetzt will er es wissen. Jetzt will er Präsident Perus werden. Er, der Indigena.

Toledo – der rebellische Populist

Endlich wird er weiterverbunden. Toledo beugt sich vor, kneift die Augen zusammen und spult sein Programm herunter: „Ich will das Land dezentralisieren, die Unabhängigkeit der Justiz wiederherstellen, die Armut bekämpfen.“ Ende. Es kann losgehen. 400 Kilometer, 40 Minuten Flug. Toledo presst die weiße Huhn-Mayonnaise-Pampe zwischen zwei Scheiben Toastbrot zusammen. Seit Wochen mampft er schon dieses Zeug, der Flugzeugverleiher hat nichts Besseres zu bieten. Aber wenigstens hat er ein Flugzeug, unbekannte Unterstützer zahlen dafür.

Selbst im Flug kann Toledo nicht abschalten. Er isst das Sandwich nur zur Hälfte, tauscht mit einem seiner Leibwächter kaltes gegen warmes Wasser, das ist besser für den rauen Hals. Dann zieht er einen Berg von Papieren aus seiner Tasche. Briefe von Freunden, Briefe von Feinden, Briefe von Leuten, die ihn, den Indigena, noch vor drei Monaten in ihrem Tennisclub höchstens als Balljungen geduldet hätten und ihn jetzt plötzlich interessant finden. Er liest sie alle, will wissen, wie er ankommt. Schlagartig dreht die Maschine bei, es geht runter. Das kleine Flugzeug zappelt beim Landeanflug wie ein Rodeopferd. Huánuco liegt in einem Talkessel, nicht jedermanns Sache, hier zu landen.

Die Entschädigung kommt auf der Plaza de Armas. Gut 10.000 Menschen warten auf Toledo. Für acht Uhr morgens war er angekündigt, um zwei Uhr nachmittags trifft er ein. Und trotzdem sind sie da. Jetzt kommt er, der Kandidat zum Anfassen. Toledo springt auf eine alte Lkw-Pritsche, sein Podium. Er muss sich mit wenig Geld für seinen Wahlkampf begnügen: Die Spezialeffekte beschränken sich auf in die Luft geworfene Papierschnitzel, die Transparente sind von Hand gemalt. Aber Toledo kämpft. „Ich bin ein störrischer indigener Rebell“, sagt er über sich. Er weiß, was er wo zu sagen hat. In Huánuco will er den Agrarsektor stärken und den Bauern billige Kredite zukommen lassen. Morgen wird er in Trujillo den Bildungssektor stärken und am Tag drauf in Arequipa in den Tourismus investieren wollen. Wie ein Tiger im Zoo wandert er beim Sprechen vom linken zum rechten Bühnenrand, unmöglich kann er still stehen. Seit Wochen hat er eine Überdosis Adrenalin im Blut – aber anders könnte er diesen Rhythmus auch nicht durchstehen. „Ich will der Präsident der Armen sein“, brüllt er, und die Menge applaudiert. Was für ein Populist.

Seit Toledos Aufstieg hat Fujimori ein Problem. Er dachte, alles sei geregelt. Die Verfassung wurde zu seinen Gunsten neu interpretiert, widerspenstige Richter waren aus dem Weg geschafft, Fernsehkanäle und Boulevardpresse fest in der Hand seiner Gefolgsleute. Lange gab es keinen Zweifel daran, dass der neue Präsident so heißen würde wie der alte: Alberto Fujimori. Doch dann hatte der listige Sohn japanischer Einwanderer den Bogen überspannt. Eine Million Unterschriften für die Zulassung seiner Partei bei den Wahlen hat er fälschen lassen, berichtete die Zeitung El Comercio. Fujimori streitet das ab. Aber nach einer ganzen Kette von Unregelmäßigkeiten wollen ihm viele sein Dementi nicht mehr abnehmen. Über Peru liegt eine Atmosphäre des Betrugs.

Das ist die Stunde des Kandidaten Alejandro Toledo. Niemand hatte seiner Kandidatur große Chancen eingeräumt. Doch plötzlich zogen seine Werte bei den Umfragen steil an, und er kletterte auf über 30 Prozent. Noch nie kam ein Gegner so nah an Fujimori heran. Was aussah wie ein rein bürokratischer Vorgang zur Bestätigung des Präsidenten im Amt, ist zum spannenden Zweikampf geworden. Trotzdem sind die Aussichten für Toledo düster: Im Kampf gegen Toledo zieht Fujimori sämtliche Register. Sein Geheimdienstberater Vladimiro Montesinos hat eine geschickte Kampagne gegen Toledo losgetreten. Im Fernsehen interessiert nicht, was Toledo sagt, wichtiger ist, ob er eine uneheliche Tochter hat oder ob seine populäre Ehefrau wirklich mit ihm verheiratet ist.

Fujimoris Wahlkampfauftritte folgen einer perfekten Dramaturgie, die Requisite lässt nichts zu wünschen übrig. Auf der Plaza de Armas von Piura sorgt eine gigantische Musikanlage für die Beschallung, die Beleuchtung macht der eines Rockkonzerts Konkurrenz, die Transparente kommen aus der Druckerei. Ein Moderator sagt ihn im Stakkatorhythmus an, als würde er im Radio ein Fußballspiel kommentieren: „Hier kommt der Präsident, er geht schon die Treppe hoch, und gleich ist er hier.“ Mit einem breiten Grinsen steht Fujimori auf der Bühne und winkt auf seine Anhänger hinunter. Viele von ihnen sind dafür bezahlt worden, hier den Jubelperser zu spielen. Sogleich setzt sein Wahlkampfsong ein: „El ritmo del Chino.“ El Chino, so nennen sie ihn, den Sohn japanischer Einwanderer, weil alle mit Schlitzaugen für sie Chinos sind. El Chino nennt er sich selbst. Er spielt mit seinem Image. Und versichert: „Ihr wisst, dass El Chino seine Versprechen hält.“ Er steht dort oben wie ein Großvater, der versucht, sich an die Lebensart seiner Enkel anzupassen. Seine Salsa-Schritte zum „Ritmo del Chino“ sind bemüht, und man sieht ihm an, wie viel Überwindung sie ihn kosten. Irgendwie gehört er hier nicht her. Aber er muss. Muss tanzen. Immer. Sein Sprechrhythmus ist einfach. „Nach der Wahl, das verspreche ich, wird in den staatlichen Schulen ein Mittagessen serviert.“ Musik. Weiter: „Ich werde neue Schulen bauen.“ Musik. Weiter. Darin unterscheiden sich beide eben. Toledo verspricht Sozialpolitik, Fujimori Mittagessen. Toledo verspricht Bildungspolitik, Fujimori Schulhäuser.

Fujimori – der listige Großvater

Dabei kennt Toledo Fujimoris Klientel viel besser. Er stammt aus ihr. Geboren wurde er in einem kleinen Dorf in den Anden. Von seinen 16 Geschwistern sind sieben an Unterernährung gestorben. Als Kind hat er sich nach dem Umzug seiner Familie auf den Plätzen der Hafenstadt Chimbote als Schuhputzer verdingt, ehe er mit 17 in der Schule ein Gedicht schrieb und sich damit ein Stipendium für die USA verdiente. Es folgten Doktortitel in Stanford, ein gut bezahlter Job bei der Weltbank, Heirat mit der Belgierin Eliane Karp, ebenfalls Stanford-Absolventin. Ein Lebenslauf wie aus der Telenovela.

Der Aufstieg Toledos zum Kandidaten ist kein Zufall. Die Institutionen in Peru sind zerstört, Politik ist zugespitzt auf einen charismatischen Führer. Nur jemand wie er kann gewinnen. Es geht nicht mehr um Inhalte, sondern nur darum, wer der nettere Kerl ist. Fujimori hat erfolgreich die Parteien entmachtet. Weder Toledo noch Fujimori haben eine Organisation, die hinter ihnen steht. Alle Kandidaten haben eine bunt zusammengewürfelte Wahlliste, auf der sich ein breites Potpourri von Kandidaten zusammengefunden hat.

Toledo wäre der erste Präsident des Landes, der von Indigenas abstammt. Das ermöglicht Identifikationen. Langsam brüllt er sich heiser. „Verfluchtes Fernsehen“, schimpft er, weil dort über ihn so gut wie nie berichtet wird. Hunderte seiner Anhänger wollen ihn anfassen. Das feuert an. Toledo wedelt wild mit den Armen wie ein Fußballspieler nach verwandeltem Elfmeter. Am liebsten würde er sie alle umarmen. „Ich brauche diesen Adrenalinschock“, sagt er. Er will geliebt werden, er muss geliebt werden. Anerkennung und Zuspruch, das sind seine Drogen. Aber irgendwann hat die Liebesaffäre mit dem Wahlvolk ein Ende. Kurz vor sechs Uhr abends entschuldigt er sich, springt von der Lkw-Pritsche, und ab zum Flughafen. In dem Nest ist die Startbahn nicht beleuchtet, vor Einbruch der Dunkelheit muss er in der Luft sein. Nur vier Tage vor der Wahl irgendwo im Land über Nacht stecken zu bleiben, das wäre eine Katastrophe. Wahrscheinlich würde er die ganze Nacht vor Nervosität in seinem Zimmer auf und ab wandern und vor sich her schimpfen. Ist schon vorgekommen. Heute bleibt es ihm erspart. Im Flugzeug sackt er in den Sitz mit dem beigen Kunstlederbezug und streckt die kurzen Beine von sich. Müde reibt er sich das Gesicht und blickt in die Wolken. Ist Fujimori mit seinem Apparat aus Geheimdienst und teuren Marketing-Agenturen nicht unbesiegbar? Ernst sagt er: „David hat auch Goliath geschlagen.“