Schlechte Schwiegertochter

Schwer zu arbeiten gilt in Vietnam ebenso als weibliche Tugend wie Schönheit und Duldsamkeit im Dienst an der Familie. Anders als in islamischen Kulturen ist Erwerbsarbeit von Frauen eine Selbstverständlichkeit, schon weil das Einkommen eines Verdieners nicht reicht. Portrait der jungen Nguyen Hun Hien
von MARINA MAI

Hien schlängelt sich mit ihrem Fahrrad durch den Campus. In der Mittagshitze sitzen viele ihrer Kommilitonen müde in den Imbissstuben herum, oder sie erledigen schnell noch ein paar Einkäufe, bevor sie ihr Mittagessen kochen. Manchmal beneidet die 21-jährige Hanoierin ihre Mitstudenten, die aus entlegenen Gebieten stammen und während des Studiums an der hauptstädtischen Universität im Studentenwohnheim wohnen dürfen. Auch wenn sie dort zu acht auf einem Zimmer hocken und oft nicht einmal den Platz haben, die Wäsche zum Trocknen aufzuhängen; die Wohnheimplätze sind bei Hanoier Studenten hoch begehrt. Nirgendwo anders als in den elenden Baracken hinter dem Hörsaalgebäude, die nicht einmal über verglaste Fenster verfügen, kann man in der traditionell nach dem konfuzianistichen Senioritätsprinzip strukturierten Gesellschaft Vietnams so etwas wie Jugend ausleben. Anders als die Kommilitonen hat Hien im Haus ihrer Eltern die Rolle der Tochter auszufüllen: In der Mittagspause radelt sie nach Hause und kocht für die Eltern.

Hiens Tag hat früh begonnen. Um halb acht hatte die Studentin der Finanzwirtschaft eine Vorlesung in Nationalökonomie, dann eine Nachhilfestunde beim Mathematikprofessor. Eigentlich ist Hien eine hervorragende Studentin, die für ihre Leistungen sogar ein Stipendium erhält, das die Studiengebüren um einiges übersteigt. Nachhilfestunden muss sie dennoch nehmen: Solche Stunden, für die Studenten ihren chronisch unterbezahlten Hochschullehrern bares Geld zahlen müssen, können den Professor im Zweifel milde stimmen, bei der Bewertung von Leistungen zu Gunsten der Studenten zu entscheiden. Eine Studentin, die Nachhilfe nimmt, signalisiert ihre Wertschätzung für den Hochschullehrer, indem sie bereit ist, ihm finanziell unter die Arme zu greifen. Und Hien braucht gute Noten. Sie will hoch hinaus: an die Staatliche Börsenkommission in Hanoi. Diese Kommission soll den Börsengang staatlicher Betriebe vorbereiten, die die Regierung privatisieren will. Börsenkommission – für Hien klingt das nach Aufbruch zu neuen Ufern. Das wäre ein Bereich, in der junge Menschen und neue Ideen das Sagen haben und nicht Alter und Tradition. Aber es klingt auch nach Reibungspunkten: Alle Jahre wieder verspricht die Kommunistische Partei, in Vietnam eine Börse einzurichten. Doch bisher siegten die Widerstände traditioneller Kader über den Willen zu wirtschaftlichem Aufbruch.

Als Hien nach Hause kommt, hat der Vater Teegäste, und die Mutter wäscht Wäsche. Der Vater erhält eine kleine Rente, die etwa den zehnten Teil des Lebensunterhalts deckt. Die Mutter ist nie einer Erwerbsarbeit nachgegangen und muss das Familieneinkommen durch Anbau von Obst und Gemüse im Garten aufbessern, wie sie es ihr Leben lang getan hat. Hien bezieht ihren Platz in der Küche und kocht Reis und Rindfleisch mit Bohnen. Die Frühlingsröllchen und die Suppe vom Vortag braucht sie nur aufzuwärmen. Und noch ein paar Kohlblätter dünstet sie. Ein vietnamesischer Tisch ist reich gedeckt, seit die Menschen wieder genug zu essen haben. Es ist Brauch, viele verschiedene Gerichte zu jeder Mahlzeit anzubieten. Und um zu zeigen, dass man heute am Essen nicht sparen muss, werden die Speisen mit reichlich Fischöl zubereitet.

Hien ist die jüngste von fünf Geschwistern und die einzige, die zurzeit im Haus ihrer Eltern wohnt. In vielen vietnamesischen Häusern und Wohnhütten teilen sich zehn und mehr Menschen zwei oder drei Zimmerchen. Aber Hiens drei ältere Schwestern haben längst geheiratet und sind zu ihren Schwiegereltern gezogen. Eine unverheiratete Schwester von Hiens Vater ist kürzlich verstorben. Hiens einziger Bruder wurde von seiner Firma für zwei Jahre nach Ho-Chi-Minh-Stadt entsandt und wird bald zurückkehren und heiraten. Mit dem Geld, das er in Saigon, wie man Ho-Chi-Minh-Stad wieder selbstverständlich nennt, verdient, konnte die Familie das Haus sanieren und baut gerade eine zweite Etage auf. Dort soll der Bruder nach der Hochzeit einziehen.

Die Teegäste sind gegangen, und Hien deckt den Tisch. Neben einer geräumigen Küche hat das Haus zwei Zimmer. Ein „offenes Zimmer“ ist direkt von der Straße aus zu erreichen. Hier steht der Hausaltar mit den Bildern der Ahnen, und hier werden Gäste empfangen. Drei- oder viermal kommen an normalen Tagen Nachbarn oder Verwandte auf einen Tee vorbei. Sie tauschen sich aus, wo man preisgünstiges Baumaterial für den Anbau bekommt, oder verabreden sich als Küchenhilfen, wenn eine Familie eine Totenfeier ausstattet. Im zweiten Zimmer, in dem gegessen wird, schlafen auch die Eltern. Früher hat Hien mit ihren Geschwistern in dem gerade mal vierzehn Quadratmeter großen Zimmer gelebt. Seit dem Tod der Tante ist die Küche ihr Reich.

Hier hat ihr ein Schwager ein Hochbett gezimmert. Nachdem Hien den Abwasch erledigt hat, zieht sie sich dahin zurück. Sie muss Englischvokabeln lernen und eine Seminardiskussion über die Finanzpolitik der vietnamesischen Regierung vorbereiten.

Hien mag solche Diskussionen, in denen sie eigene Vorstellungen entwickeln kann. Die Mutter ruft. Hien muss ihre Börsenfachzeitschrift fallen lassen und einer Verwandten helfen, eine Ladung Kohlrabi ins Haus zu tragen. Ganz unauffällig schleicht sie anschließend wieder in ihr Bett, während die Mutter die Verwandte mit einem Tee bewirtet.

Auf dem Hochbett bewahrt Hien ihre Fachzeitschriften auf. Fachbücher gibt es für ein so dynamisches Fach wie Finanzwirtschaft nicht. Zwei mal zwei Meter ist das Bett groß, Hiens Privatbereich. Die jüngste Tochter der Familie ist die Erste, die im Haus der Eltern ein solches Reich hat. Früher waren die Wohnverhältnisse so beengt, dass die mit einer spärlichen Bastmatte und mit Sprungfedern ausgestatteten Betten tagsüber auch als Sitzgelegenheit dienen mussten, weil kein Platz für Stühle vorhanden war. Hien verstaut auf dem Hochbett neben den Studienunterlagen auch ihre persönlichen Dinge: Fotos ihrer Neffen und Nichten, die Skulptur einer „heiligen Schildkröte“ und einen besonders wertvollen Schatz: eine Packung französische Gesichtsmaske, die gegen Pubertätspickel helfen soll. Und hier oben spielt sie auch mit den Kindern ihrer Schwestern, wenn die zu Besuch sind. Kindermädchensein und Karrieremachen sind für Hien keine Widersprüche. Die Anerkennung, die sie als Kindermädchen erwirbt, wird ihr bei der Karriere zugute kommen. Nur wer in einer tradierten Gesellschaft Anerkennung erwirbt, kann Beziehungen aufbauen, um in hohe Positionen zu gelangen.

Doch die traditionellen Verpflichtungen stehen Hiens Karriere auch im Weg. Es ist in Vietnam üblich, dass Kinder die Haushaltsarbeit erledigen und die Eltern, die selbst seit frühester Kindheit schuften mussten, entlasten. Hien muss das Haus hüten und der Mutter stets zur Hand gehen, als Zeichen ihrer Achtung. Und wird im Haus ein Totentag gefeiert, darf Hien nicht zur Uni fahren, sondern muss die Gäste der Eltern bewirten.

Wenn ihr Bruder erst heiratet, kommt jedoch eine Schwägerin ins Haus, die ihr diese Arbeit abnimmt. Traditionell ist es Aufgabe der Schwiegertöchter, den Alten die Arbeit abzunehmen. „Wenn du eine Schwiegertochter hast, lehne dich getrost zurück und lass sie für dich arbeiten“, sagt ein vietnamesisches Sprichwort. Dann kann Hien auch für ein Jahr nach Singapur oder Malaysia zum Praktikum gehen. Ohne Auslandserfahrung keine Börsenkommission.

Die Mittagspause ist zu Ende, und Hien radelt zum Englischkurs. Zehn Minuten braucht sie zur Uni. Dass der Weg zum wirtschaftlichen Institut so kurz ist, hat die Eltern schließlich auch von der Wahl ihres Studienfachs überzeugt. Nach deren Willen hatte sie einen traditionellen Frauenberuf ergreifen sollen: Lehrerin. Das Pädagogische Institut liegt jedoch so weit weg, dass ein Moped hätte angeschafft werden müssen.

Trotz der Pubertätspickel schauen sich die Kommilitonen nach ihr um. Einen Freund hatte Hien aber noch nie. Den Grund glaubt sie zu kennen: In Vietnam heiraten nicht nur ein Mann und eine Frau, es heiraten vor allem zwei Familien. Hien aber wäre eine schlechte Schwiegertochter. Wer nimmt schon eine, die an die Börsenkommission will? Das heißt rund um die Uhr arbeiten. Auch nach Feierabend wird das Telefon gelegentlich klingeln. Was aber, wenn gerade dann die Schwiegermutter ihre Hilfe braucht?

MARINA MAI, 39, lebt als freie Journalistin mit ihrem vietnamesischen Mann in Berlin.