Dharamsala: Die Realitäten des Exils

Techno im Goa-Trance, bettelnde Kinder, Filmvorführungen auf der Hauptstraße, tibetischer Jugendkongress und tibetische Frauenvereinigung: Dharamsala, der Sitz des 14. Dalai Lama im nordindischen Exil, hat viele Gesichter – indische, tibetische und westliche

von GUDRUN HENNE

Mitten auf der Temple Road in McLeod-Ganj, dem tibetischen Teil von Dharamsala, lagern knapp dreihundert TibeterInnen. Zwischen der miefigen Abwasserrinne und den heruntergelassenen Eisenrollos der Restaurants und Souvenirläden schauen sie sich den Videofilm „Windhorse“ an – auf einem in der Mitte der Straße aufgebauten Fernseher. Der Film von Paul Wagner aus dem Jahr 1998 erzählt von der tibetischen Nonne Pema, die nach einer Demonstration in Lhasa verhaftet und nach drei Tagen Gefängnis halb tot ihren Verwandten übergeben wird. Aus Protest gegen China haben sich die TibeterInnen zu einem 24-stündigen symbolischen Hungerstreik in dieser Vollmondnacht entschlossen, während im Nachbartal Hippies, Freaks, Urlauber und spirituelle Sucher aus dem Westen zu entrückten Rhythmen des Wassermannzeitalters in Trance versinken.

Die Atmosphäre in McLeod-Ganj und den umliegenden Dörfern im nordindischen Unionsstaat Himalach Pradesh, zwölf Busstunden nördlich von Delhi, ist vielschichtig. Vor den schneebedeckten Bergen im Hintergrund wirkt es auf den ersten Blick wie ein österreichischer Skiort im Sommer, mit Spaziergängern, Souvenirläden mit Verkäuferinnen in ländlicher Tracht, Trägheit, entspannten Gesprächen. Doch der erste Blick wird sofort korrigiert. Von den zahlreichen Dachrestaurants aus kann man nicht nur die schneebedeckten Berggipfel sehen, sondern auch rauchumwölkte Baumzonen, in denen das trockene Bodengras entflammt ist. Die örtliche Feuerwehr zeigt sich desinteressiert: Der Brand wird sich schon legen, wenn das Gras erst verschwunden ist.

Die Straßen in McLeod sind dreckig, die Abwasserrinnen voller Unrat meist stinkig. Die Stromleitungen führen wirr durch den Ort, Kühe spazieren durch die Straßen und fressen Reste aus Kisten, kleine, verdreckte indische Kinder laufen herum und betteln. Das gehört zum indischen Standard, und die meisten Besucher haben sich daran gewöhnt – zumal der Ort wegen der Anwesenheit sozial gut organisierter Tibeter sauberer ist als andere in Indien.

McLeod ist eines der bei Westlern beliebtesten nordindischen Reiseziele. Zu hunderten kommen sie von März bis Juni und September bis November aus den heißen Teilen Indiens. Man wohnt in kleinen Hotels, die meist von TibeterInnen unterhalten werden, oder in einem der tibetischen Klöster. Im Gemeindezentrum der TibeterInnen gibt es eine kleine Bibliothek und die Möglichkeit, abgekochtes Trinkwasser zu kaufen. Die Initiative des tibetischen Exilinnenministeriums spart täglich eine Unzahl von Plastikwasserflaschen, die in den indischen Shops zu haben sind.

Auf den Anschlagtafeln neben dem Gemeindezentrum werden Yogakurse, Sitzungen im Handlesen, Reiki, Persönlichkeitsberatung, Meditationen von Osho, Zen-Shiatsu, Massage und noch einiges mehr angeboten, und ein tibetischer Mönch sucht Englischunterricht. Erleuchtete laden zu kostenlosem „Satsang“, Meditationssitzungen mit Fragemöglichkeit, ein.

Anschläge für den Hungerstreik oder die Demonstrationen, die regelmäßig abgehalten werden, sind nicht zu finden. Mundpropaganda und die drei tibetischen Radiostationen informieren die Exiltibeter, die westlichen und indischen Touristen erfahren davon erst ad hoc. Fernab von internationalem Interesse und Medienpräsenz legen der Tibetische Jugendkongress, die Tibetische Frauenvereinigung und die Tibetische Nationalpartei, Veranstalter der meisten Demonstrationen, auf die Einbindung der westlichen Besucher keinen rechten Wert.

In der Videohalle auf der Temple Road, einer Mischung aus Steinschuppen, Baracke und Kellerfetenraum, werden neben einer bunten Mischung westlicher Filme täglich Dokumentationen zu Tibet oder „Kundun“ und „Sieben Jahre Tibet“ gezeigt. Der Eintritt kostet umgerechnet 45 Pfennig, und der Film gilt als ausverkauft, wenn alle wackligen Bänke und der Fußboden besetzt sind. „Windhorse“, der regelmäßig gezeigt wird, ist zwar meist gut besucht, aber bei Roberto Begninis „Das Leben ist schön“ war die Videohalle tagelang überfüllt.

Es herrscht ein merkwürdiges Nebeneinander in Dharamsala. Die alte Tibeterin füllt in ihrem Kramladen das Mehl mit einer Blechschaufel ab und wiegt es mit einer Handwaage aus, wobei sie die Gewichte erst umständlich unter der Ladentheke hervorsuchen muss. Kaputte Sandalen repariert der Schuster auf der Straße für wenig Geld, indem er die gebrochenen Sohlen mit einem dünnen Stück Gummi überklebt. Er sitzt vor dem „Green Café“ auf der Erde, das neben britischem Möhren- und Bananenkuchen an zwölf Bildschirmen Internetzugang anbietet und über Flachbrettscanner sowie Farbdrucker verfügt.

Warum kommen so viele Reisende aus dem Westen hierher? Es gibt schöne Tageswanderungen, zum einsamen Wasserfall zum Beispiel oder hinauf zur Schneegrenze in 2.700 Meter Höhe, wo die bunten Gebetsfahnen das Mantra „Om Mani Padme Hum“ in alle Richtungen der Welt senden.

Doch die wenigsten kommen nach Dharamsala bloß wegen der Wandermöglichkeiten. Das Klima ist in den heißen Monaten zwischen März und Juni in den Vorläufern des Himalaja auf 1.830 Meter zwar sehr angenehm, das ist aber in allen hill stations in Nordindien der Fall. Hanf wächst an den Hängen von Manali besser, und die Freundlichkeit der Tibeter, die entspannte Atmosphäre – ein schwer erträglicher Kontrast zur Situation in Tibet –, das tibetische Speisenangebot, das sich vom indischen Essen unterscheidet, können kaum ausreichende Gründe für die tausende Besucher in den Sommermonaten sein, die McLeod zu einer für Indien ausgesprochen guten Infrastruktur verholfen haben.

Die Hippies, Freaks und Sinnsuchenden, die Monate bleiben, sich aber kaum mit Tibet beschäftigen, die Unterstützer von Tibet-Initiativen, die für ein paar Wochen zur Besichtigung „ihres“ Klosters und der tibetischen Exilsituation anreisen, die ernsthaft Studierenden buddhistischer Lehren, die neu ankommenden Flüchtlinge, die indischen Urlauber, sie alle eint eine Motivation für ihren Aufenthalt in Dharamsala: die Präsenz des Dalai Lama. Seit seiner Flucht aus Lhasa im Jahr 1959 hat er im Namgyal-Kloster zusammen mit 300 Mönchen seinen Exilsitz.

Er wohnt in einem abgeschirmten Teil des Klosters, dessen Waschbetonanlage ansonsten eher einer überdimensionalen Jugendherberge gleicht. Zwar wissen die meisten Reisenden aus dem Westen oft nicht, dass oder warum gerade demonstriert wird, doch dass der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, eine öffentliche Audienz hält, spricht sich sofort herum.

Für drei Sekunden Blickkontakt stehen alle geduldig Schlange bei der bürokratischen Prozedur der Anmeldung und während der chaotischen Wartezeit, bevor die Audienz beginnt. Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, der 1989 den Friedensnobelpreis erhalten hat, zieht alle gleichermaßen an, Tibeter, Westler, Inder. Seine Präsenz ist der Grund dafür, dass McLeod als Urlaubs- und Erholungsort boomt, den tibetischen Flüchtlingen durch den Tourismus einen guten Lebensunterhalt garantiert und sich zu einem spirituellen Minizentrum im Himalaja entwickelt.

Was wäre, wenn der Dalai Lama plötzlich wegzöge? „Ich gehe dahin, wohin der Dalai Lama geht“, sagt Ngadup Tsering, der Videohallenbetreiber, 33, „wenn er nach Tibet geht, gehe ich nach Tibet. Wenn er nach Äthiopien geht, gehe ich nach Äthiopien.“ So denken alle TibeterInnen in Dharamsala, und der Tross der TouristInnen würde ihm wohl folgen, ob er sich nun für Tibet und die Menschenrechtslage interessiert oder nicht.