Aufbruch, Aufbruch, Untergang

Die Krise, sagt Volker Braun, hat uns noch nicht ganz erreicht. Über den Büchnerpreisträger und seinen Abgesang auf die westliche Welt

von VOLKER WEIDERMANN

Volker Braun lachte. Es war vor drei Tagen in der Berliner Akademie der Künste, als er zu Ehren seines sächsischen Dichterfreundes Karl Mickel an einer Gemeinschaftslesung teilnahm. Danach stand der frisch gekürte Büchnerpreisträger noch mit einem Kollegen zusammen und lachte herzlich. Das Klicken einer Kamera ließ Braun zusammenfahren. „Nicht, wenn ich lache!“, fuhr er die Fotografin an. Die wunderte sich. Aber das Lachen Volker Brauns war ihr nicht mehr zu nehmen.

Dass Volker Braun „sich quält“, sich „die Worte qualvoll aus dem Körper zwingt“, „obsessiv leidet“, „auf dem Schmerz beharrt“ und „ohne Hoffnung“ sei, das gehört zu dem Bild, das man sich von Volker Braun gemacht hat und das man sich wohl auch nach seiner Meinung von ihm machen soll. Ein deutsches Dichterbild, das Bild eines Idealisten, der in seinem Schreiben alles gibt und alles wagt. Selten zuvor ist ein Büchnerpreisträger von den Feuilletons so einhellig begrüßt worden wie diesmal Volker Braun: „Warum der Büchner-Preis in diesem Jahr an den Richtigen geht“, erklärte die Süddeutsche, Jens Jessen jubilierte in der Zeit, dass „der Büchner-Preis selten einen so würdigen Träger gefunden“ habe, und Thomas Steinfeld verkündete in der FAZ: „Keine bessere Entscheidung hat die Akademie in den vergangenen Jahren getroffen.“

Und Steinfeld erläuterte auch gleich, warum. „In einer Zeit“, schreibt er, „in der sich die deutschsprachige Literatur vor allem mit Lockerungsübungen zu beschäftigen scheint und den Dichter als Unterhaltungskünstler wiederkehren lässt, profiliert sich die Darmstädter Akademie als Hort des poetischen Widerstands.“ Eines Widerstands, der auch einer der Feuilletons ist, die mit der großen Welle junger deutscher Literatur, die, ganz ohne ihr Zutun, zum Erfolgsmodell wurde, um ihre Deutungshoheit fürchten. Und die FAZ begann noch am selben Tag mit dem Vorabdruck eines Gedichtzyklus von Volker Braun. Titel: „Totentanz“. Es würden hier „die großen Begriffe unserer Zeit“ behandelt, hieß es, „von der Utopie bis zur Kunst“. Und in jedem Gedicht wird ein kleiner Untergang besungen. Ein Abgang. Ein Ende.

„Wir stehen ganz am Anfang.“ Das hatte Braun 1959 geschrieben. In seinem Staat, in der DDR. Volker Braun, 1939 in Dresden geboren, erwartete alles von diesem Land. Buchstäblich alles. Hier auf Erden schon, in diesem Teil der Welt zumindest, war das Paradies zu errichten. Braun wollte mitmachen. Und als er nicht studieren durfte, weil er nicht als „Muttersöhnchen des Sozialismus“ galt, wurde er Druckereiarbeiter, dann Tiefbauarbeiter im Braunkohlenkombinat Schwarze Pumpe, schließlich Maschinist im Tagebau Burghammer. Doch er schätzte diese Arbeit ebenso hoch wie das Philosophiestudium, das er dann 1960 doch noch aufnehmen durfte. Der Handwerker, der Handarbeiter ist ein immer wiederkehrender Held seiner späteren Werke. Und auch heute noch antwortet Braun, wenn man ihn um ein Interview bittet: „Ach, fragen Sie doch einen Fleischer oder einen Schuster. Das ist doch viel interessanter.“

Die poetische Euphorie der Anfänge klingt so mitunter recht mechanisch. Hier wurde Hand- mit Kopfarbeit aufs Freudigste versöhnt: „Unsere Gedichte sind Hochdruckventile der Sehnsüchte“, heißt es im Vorwort seines ersten Gedichtbands, „Provokation für mich“, der 1965 erschien. Und: „Kommt uns nicht mit Fertigem. Wir brauchen Halbfabrikate. /Weg mit dem Rehbraten – her mit dem Wald und dem Messer.“ Alles schien möglich, das Glück war total, die jungen Menschen waren maßlos, und Gagarins Flug ins Weltall war Symbol dafür, dass die Grenze des Möglichen ins Unendliche ausdehnbar war.

Volker Braun begann seine Dichterkarriere als Romantiker der Revolution, als glückstrunkener Verkünder eines marxistischen Messianismus, als Vorandichter einer Welt, in der alles, alles gut sein würde. „Es wird ein Überfluss an materiellen Gütern da sein, ein Überfluss an Gedanken und ein Überfluss an Gefühlen. Es wird gar keinen Grund mehr geben, irgendeinen Menschen nicht zu lieben. Ich sage, der Mensch des neuen Jahrtausends wird leben, wie es angenehm ist. Es gibt keine Sitten, es gibt keine Normen. Es gibt nur den Tag, der ist immer neu.“

Schreiben war für Volker Braun immer untrennbar mit politischer Wirksamkeit verbunden. Er hatte stets einen emphatischen Glauben daran, dass Schreiben politisches Handeln sei und das Handeln der Menschen im Alltag beeinflussen würde. Es galt, der solidarischen Gesellschaft voranzudichten, das Gedicht war der leuchtende Pfad zum gemeinschaftlichen Glück. „Poesie muss ans Ende gehen: das in den Dingen selber liegt. Sie muss aufzeigen oder ahnen lassen, wohin alles führt.“

Dass dies „alles“ nicht unbedingt das vollkommene Glück sein würde, wurde mit den Jahren auch Volker Braun immer klarer. In den 70er-Jahren war von dem ungebrochenen Optimismus der Anfänge nur noch wenig zu spüren. Er haderte mit der Trägheit der Apparate, dem Vertröpfeln der Euphorie, dem sozialistischen Alltag und bald auch schon mit der Zensur. Eine Liste seiner Theaterstücke, die neben der Entstehungszeit das Datum der Erstaufführung in der DDR verzeichnet, gibt einen Eindruck dieses stillen Kampfes. Die meisten Stücke wurden drei, vier, fünf Jahre zwischen Autor und Behörde hin- und hergeschoben, zum Teil von Braun umgearbeitet, zum Teil wurden sie ganz verboten. Für Braun war das Theater eigentlich ein „Haus, in dem die Möglichkeiten der Gesellschaft durchgespielt werden, damit die günstigste wahrscheinlicher werde“. Den Zensurbehörden waren die Möglichkeiten in Brauns Stücken jedoch meist nicht günstig genug.

So wurde Braun mit der Zeit zu einem scharfen Kritiker der realsozialistischen Wirklichkeit. Einem Kritiker jedoch, der sich stets bewusst war, in der besseren Hälfte Deutschlands zu leben, in dem Teil des Landes, das durch die Vergesellschaftung des Eigentums immer noch die besten Voraussetzungen für das mögliche Paradies in sich trug. So gehörte Braun denn auch zu den Erstunterzeichnern beim Protest gegen Biermanns Ausbürgerung, betonte aber gleichzeitig, dass die Kluft zwischen „uns“ und „der Partei“ nicht zu groß werden dürfe. Braun war ein Vierteldissident, den man im Westen als Volldissidenten missverstand, der jedoch seinen Staat nur durch Kritik voranbringen, wachrütteln wollte.

Am besten hat er sein Dilemma in der „Unvollendeten Geschichte“ von 1975 beschrieben, einer klassischen, an Büchner und Kleist geschulten Novelle, die die Desillusionierung der Tochter eines Ratsvorsitzenden beschreibt. Der Vater, die Mutter und der Staat wollen Karin von der Liebe zu einem Mann abbringen, dem geplante Republikflucht vorgeworfen wird. Karin beugt sich dem Willen der Autoritäten. Doch als sie nach dessen Selbstmordversuch die Unschuld ihres Freundes erfährt, droht sie „diese Geborgenheit, diese Übereinstimmung mit allem zu verlieren“. Und „das war, als würde sie sich selbst verlieren“. Trotzdem hat die Geschichte ein offenes Ende, die Geschichte der Liebenden geht, ebenso wie die Geschichte des Staates, von dem eigentlich gesprochen wurde, weiter.

Es war eine „Unvollendete Geschichte“, und Braun hoffte noch. Auf Besserung. Auf Einsicht und Gerechtigkeit. Doch seine Texte wurden dunkler. Während er voranschreiben wollte, schrieb er in Wirklichkeit mit am Untergang seines Landes. Dann war er da, der Untergang, und Braun hielt ihn, wie so viele, für den lange zuvor verfehlten Neuanfang. Im Herbst 1989 zog noch einmal die alte Euphorie in seine Texte ein. Die grenzenlosen Möglichkeiten. Da war plötzlich noch einmal von einer Staatsform die Rede, „die ein Protestmarsch bleibt gegen die elenden Verhältnisse“, von einer Demokratie der Basis, einer Herrschaft der Räte, von sanften Technologien und milder Macht, von Volkseigentum plus Demokratie und Revolutionen, die wie ungeschriebene Gedichte sind.

Aber die Angst vor dem, was da womöglich aus dem Westen drohte, war immer mit dabei. Schon in seinem Prolog zur Eröffnung der 40. Spielzeit des Berliner Ensembles am 11. Oktober 1989 spricht er vom „jüngsten Tag“, der nun anbricht, und die Warnungen an seine Mitbürger vor dem Westen werden lauter: „Binden wir uns nicht wieder an ans Gängelband eines falschen gesellschaftlichen Interesses, das im Kaufhaus des Westens zu haben ist.“

Doch sie banden sich an, und Braun konnte es nicht fassen. Braun hat sein Land verloren, die Basis seiner Hoffnung. Wie seine Heldin Karin aus der „Unvollendeten Geschichte“ sagt er: „Mir ist, als hätte ich meinen Kern verloren, meine Mitte, und könnte nicht mehr vor einem Blatt sitzen. Es fehlt der gemeinsame Raum. Er ist zusammengeklappt.“ Ist die Geschichte jetzt vollendet? Braun ahnt es, ohne es sich wirklich einzugestehen. „Wir sind erst einmal am Ende. Mit dem Erkennen kommt die Krise. Ich denke, die Krise hat uns noch nicht ganz erreicht. Sehen wir ihr also entgegen.“ Das ist die letzte Hoffnung Volker Brauns: Ein neuer Untergang. Ein neuer Anfang.

Sein zuletzt erschienener Gedichtband, „Tumulus“, ist ein großer, wütender Abgesang auf die westliche Welt. Er, der von sich und seinesgleichen stolz berichtet: „Wir haben einen Staat verschwinden gemacht“, singt auch dem Westen jetzt das Totenlied. Doch der hört es kaum. Und Braun wird starr in seiner Wut. In seinem frühen Gedicht „Meine Damen und Herren“ schrieb Volker Braun einmal, „Noch spiele ich meine Rolle / Kühl, mit großem Anstand / Noch stehe ich über dem Text / Noch ist die Maske nicht ins Fleisch gewachsen.“ 35 Jahre später dichtet Braun im Gedicht „Das Nachleben“: „Ich kam abhanden. Siedendheiß / Trocknete meine Totenmaske. Ich / saß ganz stille / In der Welt, ein Schlucken unterdrückend / Da jemand an mich dachte (dachte ich) / Und konnte mich gewöhnen an den Zustand.“ Die Maske am Ende des Gedichts ist starr. (Nur manchmal, heimlich, lacht sie noch.)