Merkels politische Ästhetik

Die CDU-Spendenaffäre und ihre Folgen (15): Die Partei hat jetzt die große Chance, die Ära Kohl zu überwinden – allerdings nur, wenn sich die neue Führung um Angela Merkel durchsetzt
von WARNFRIED DETTLING

Trümmerfrau oder Retterin? Die Wahl Angela Merkels zur Vorsitzenden der CDU markiert eine Zäsur in der Geschichte der CDU. Dem Rheinischen Kapitalismus entsprach, von Adenauer bis Kohl, eine rheinisch gefärbte CDU, ein sozialer Konservativismus mit Sozialausschüssen und traditionellem Familienbild im Bunde mit Modernisierung und freiem Markt. Im digitalen Kapitalismus löst sich dieser Bund allmählich auf. Mehr noch als Kohls Sturz in die Tiefe sind Stoibers Seufzer kennzeichnend für die neue Lage: Amerikanisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, diese ganze neoliberale Ideologie, das könne doch nicht das letzte Wort sein für das christliche Abendland und für eine christlich-soziale Partei ...

Der Blick auf die Dramatik der jüngsten Ereignisse verengt nicht nur der CDU den weiten Horizont der Veränderungen. Gewiss, es sind scheinbar vordergründige Dinge, die das noch vor ein paar Wochen Undenkbare möglich gemacht und Frau Merkel den Vorsitz der CDU gebracht haben. Denn zum einen musste ein Neuanfang her mit Personen, die sich nach Geschlecht, Generation und Gesittung möglichst radikal von Kohl unterscheiden. Und zum anderen hatte Merkel den bunten Strauß ganz unterschiedlicher Emotionen und Projektionen bei den Regionalkonferenzen mit leichter Hand gepflückt. Es war kein politischer Wille, sondern eine politische Stimmung, die sie nach oben getragen hat. Und nicht zuletzt waren da die Blockaden und Selbstblockaden derer in der zweiten Reihe. Das aufgewühlte Meer hat sich geteilt, die Fluten haben sich zurückgezogen, und mittendurch, als sei dies das Natürlichste der Welt, kam sie ans Ziel. Für die Zukunft der CDU lässt sich aus alledem wenig ablesen. Vielleicht gehen jetzt die Diadochenkämpfe erst so richtig los und sie wird zu einer Episode des Übergangs. Aber vielleicht unterschätzen Freund und Feind einmal mehr ihre sanfte Macht; dann könnte gegen eine runderneuerte CDU die rot-grüne Koalition bald ziemlich alt aussehen.

So viel ist klar: Mit Merkels Wahl ist die Ära Kohl, seine Macht noch in der Zerstörung, nun endgültig vorbei. Seine Intrigen, der politische Mord an seinem Erben Wolfgang Schäuble, werden nun die paradoxe Folge zeitigen, dass die bleierne Zeit seiner späten Jahre gründlicher abgeschüttelt wird als bei jedem anderen Nachfolger. Seit zehn Jahren wirkt sie nun in der Politik, und noch immer betrachtet sie Land und Leute und die eigene Partei mit dem Blick einer Ethnologin, die über ihrer Sympathie nicht die Distanz zum Objekt der Begierde verloren hat. Wie jede gute Ethnologin, die in einen alten Stamm kommt, wird sie die verschütteten Anteile der Tradition besser entdecken und klarer aussprechen als die Eingeborenen selbst, und so wird sie daran erinnern, dass die soziale Marktwirtschaft, die jene immer verehrt haben, nicht nur materiellen Wohlstand meint, sondern auch Teilhabe und Gerechtigkeit; dass die Freiheit, die sie besungen, über ökonomische Freiheiten hinausgeht und auch soziale Rücksichten kennt; dass eine moderne Gesellschaft möglicherweise beides braucht: Kinder und Inder.

Merkels Wahl ist nicht das Ergebnis irgendeiner Richtungsentscheidung. Aber sie ist Ausdruck und Folge einer Entwicklung,die viel tiefer geht und weiter reicht. Nicht was von der künftigen CDU-Vorsitzenden ausging (an Ankündigungen oder Abgrenzungen), sondern was ihr zuflog (an Gefühlen und Hoffnungen), gibt Einblick in das Innenleben der CDU wie der Gesellschaft. Sie ist nicht links noch rechts. Weder Frauenunion noch Sozialausschüsse noch Wirtschaftsrat können sie für sich vereinnahmen. Und doch wirkt und redet sie ganz anders als eine politische Leerformel. Es sind ihre Sprache und ihr Auftreten, die sie unterscheiden. Da ist (noch?) kein Politjargon wie in jenen Sprechautomaten, aus denen die Antworten immer schon herauspurzeln, ehe die Fragen drinnen sind. Immer mehr Zeitgenossen können die übliche politische Rhetorik immer weniger vertragen; sie wünschen sich Gesichter statt Charaktermasken; Argumente mit guten Gründen statt Phrasen und Verdrängungen; einen politischen Ideenhaushalt, der nicht nur aus den alten Schubladen zusammengesucht wird. Sie gibt den Leuten das Gefühl, dass auch sie noch etwas fremdelt in einer politischen Welt, die auch ihnen immer fremder wird.

Man muss Angela Merkel als politisch-kulturelles Phänomen begreifen, um zu verstehen, was sich mit ihrer Wahl ereignet. Sie vereint Widersprüche in sich, zieht ganz unterschiedliche Erwartungen auf sich, bringt zusammen in ein Angebot, was sonst in ganz unterschiedlichen Lagern deponiert ist – und ist gerade dadurch repräsentativ für eine komplexere politische Welt. Eindimensionale Politiker und Parteien werden künftig keine Wahlen mehr gewinnen. Auf den richtigen Policy-Mix, auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kommt es an. Die politische Ästhetik wird wichtiger als eine scheinbare politische Substanz („Koordinaten“), die sich oft genug, schaut man nur genauer hin, als bloße Sprüche und als Denkfaulheit enthüllen. Ästhetik im ursprünglichen Sinne des Wortes: Wahrnehmung. Wie nehmen die Menschen Angela Merkel wahr? Und: Erkennen sie sich wieder in der Art und Weise, wie diese die Gesellschaft und die Biografien, die Menschen in Zukunft leben, wahrnimmt? Die einen erinnert sie an eine fürsorgliche Erzieherin oder Pflegerin, bei der man die eigenen Kinder oder Eltern gut und gerne aufgehoben weiß. Das sind nicht die schlechtesten Assoziationen in einer gehetzten Gesellschaft, in der Zeit für Liebe und Zuwendung zu einem immer knapperen Gut wird: High Touch. Andere sehen in ihr eine starke und unabhängige, eine intellektuelle und auf eine rätselhafte Weise attraktive Frau mit analytischem Verstand: High Tech. Und vielen imponiert ganz einfach, dass hier und jetzt eine die gläserne Decke durchbrochen hat, die auch erfolgreiche Frauen sonst den Gipfel sehen, aber nicht erreichen lässt: High Power.

Das alles könnte eine Erfolgsgeschichte werden und neue Wähler bringen, weibliche und östliche vor allem. Aber es ist auch eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Merkels Aufstieg vollzog sich in ein paar Monaten, in denen die CDU nicht nur örtlich betäubt war. Wenn sie aufwacht, müssen sich nicht die neuen, es können sich auch die alten Kräfte wieder regen. Und der CSU hat es die Sprache verschlagen, wie sich da in der CDU eine neue Generation zu emanzipieren beginnt, nicht nur von der Ära Kohl.

Mit Merkel und Merz, mit Generalsekretär Polenz und Schatzmeister Cartelliere bekommt die CDU eine neue Chance, wieder wettbewerbsfähig zu werden, nicht mehr und nicht weniger. Die SPD bereite sich derweil mit neuen Ideen und Strukturen darauf vor, nicht nur das nächste Spiel, sondern nachhaltig die politische Vorherrschaft in Deutschland zu gewinnen. Erfolg oder Misserfolg der neuen CDU-Führung entscheidet sich daran, ob Merkel & Co. die strukturelle Mehrheitsfähigkeit für die CDU/CSU zurückerobern oder auf Dauer verlieren, wenn die Beben abgeebt und die Trümmer weggeräumt sind.

Hinweise:Sie blickt auf die Partei wie eine Ethnologin: mit Sympathie und DistanzEindimensionale Politiker werden künftig keine Wahlen mehr gewinnen