Erscheinungsform Geschichte

■ Heute Abend zeigt das Abaton-Kino den Dokumentarfilm „Erscheinungsform Mensch“ über den Nazi Adolf Eichmann

„Heute, 15 Jahre und einen Tag nach dem 8. Mai 1945, beginne ich mein Gedenken zurückzuführen bis zu jenem 19. März des Jahres 1906, als ich in Solingen, Rheinland, um fünf Uhr morgens in das irdische Leben als Erscheinungsform Mensch eintrat.“ Ein doppelter Anfang: Mit ihm beginnen die Memoiren, die der hauptamtliche Organisator der „Endlösung der Judenfrage“ Adolf Eichmann während seiner Haft in Israel 1960 schrieb. Und zugleich sind dies die ersten Worte eines Dokumentarfilms, der Eichmanns Selbstdefinition zu seinem Titel gemacht hat.

Rolf Defranks Erscheinungsform Mensch, der 1979 im Sinne Hannah Arendts als „Versuch einer Annäherung an die verkörperte „Banalität des Bösen“ entstand, ist heute selbst ein Stück Geschichte, mit dem wir von der Gegenwart sprechen können. Erst vor wenigen Monaten hatte Die Welt mit der erstmaligen Veröffentlichung der Eichmann-Memoiren begonnen und damit eine Debatte über den Erkenntniswert dieser Erinnerungen ausgelöst. Im Gegensatz zu den diskutierten Memoiren aber geht es in Erscheinungsform Mensch keineswegs um eine Innenansicht des ehemaligen SS-Obersturmbandführers. Alle Aussagen Eichmanns, die hier zu hören sind, sind vielmehr Teile eines Dialogs und als solche den Polizeivernehmungen in Israel entnommen.

Das Dialog-Prinzip trägt dabei das ganze Projekt. Neben Eichmann kommen hier zahlreiche andere Zeitzeugen zu Wort: Unter ihnen der ehemalige Polizeihauptmann Avner Less, der das Verhör leitete, der Historiker Israel Gutman, der damalige israelische Generalstaatsanwalt Israel Gabriel Bach und die Auschwitz-Überlebende Rivka Joselewska. Die Montage ihrer Erzählungen, das Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven, gibt Erscheinungsform Mensch seine Struktur, die sich damit wohltuend von der Abrundungsdramaturgie der Shoa-Foundation-Dokumentation Die letzten Tage abhebt.

Es hat so nicht nur mit dem früheren Entstehungsjahr zu tun, dass die Auswirkungen des Holocaust auf die Überlebenden hier wesentlich beängstigender spürbar sind als in Die letzten Tage. Während dieser hochgelobte Film eine Reise zu einem vergangenen, lokalisierbaren Horror der Geschichte unternimmt, ist dieser Schrecken in Erscheinungsform Mensch ein lebendiger und unerbittlicher Begleiter. Geschichte hat hier nicht ein Gesicht oder ein Bild, sondern ist all das, was zwischen den Bildern und Gesichtern liegt.

Jan Distelmeyer

heute, 20 Uhr, Abaton, mit Produzent Ottokar Runze als Gast