Komplexes Miteinander

Wenn Einwanderer ihre Zeitungen, ihre Filme und ihre Fernsehprogramme konsumieren, bedeutet dies noch lange keine Abschottung gegenüber dem Einwanderungsland
von KAI HAFEZ

Über das Wesen des medialen Kommunikationsprozesses in der Einwanderergesellschaft gibt es eine Reihe von Grundannahmen. So heißt es beispielsweise: Medien können zur Integration in die neue Umgebung beitragen und damit ein Bestandteil des globalen Kulturwandels und der -angleichung sein; sie können aber auch, so meinen andere, die Integration behindern, Desintegration und die „Ethnisierung“ der Gesellschaft fördern. Dass keine dieser Grundpositionen die Prozesse vollständig beschreibt, hat die britische Forscherin Marie Gillespie am Beipiel des Medienverhaltens indischer Einwanderer in Southall in England aufgezeigt. Die britische Gesellschaft ist im Vergleich zur bundesrepublikanischen eine weitaus fortgeschrittenere Einwanderergesellschaft. Ihre Entwicklung hält – bei aller Vorsicht mit Vergleichen – einige Lehren für Deutschland bereit. Gillespie hat herausgefunden, dass die verschiedenen Einwanderergenerationen, dass Eltern, ihre Kinder und Enkelkinder die indischen wie britischen Medienangebote mit sehr unterschiedlichen Augen wahrnehmen können. Während die Älteren den indischen Film- und Videoproduktionen zuneigen und dem Programmangebot des englischen Fernsehens mit moralisch und politisch begründeter Distanz gegenüberstehen, fehlt den Jüngeren, die Indien oft nur noch aus dem Urlaub kennen, häufig schon das Hintergrundwissen und die Bindung zu indischen Produktionen. Ihre Vorlieben gelten den Medienangeboten des britisch-westlichen Umfeldes, in dem sie leben. Der Generationenkonflikt ist vorprogrammiert, er entzündet und entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit Medien. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass die Jüngeren sich eine gewisse Loyalität gegenüber der Kultur der Altvorderen bewahren, dass sie nun einmal indische Filme ihr Leben lang mit sehen, dass sie die Medien ihrer neuen Heimat für ein vorurteilsbeladenes Ausländerbild kritisieren und nach Formen suchen, die Medienkultur der neuen Umgebung in ihrem Sinne zu verändern.

Wenn aber ein und dasselbe – entweder indische oder westliche – Medienangebot von unterschiedlichen Teilen der Einwandererschaft ganz unterschiedlich „gelesen“, rezipiert und interpretiert wird, dann wird es mit fortschreitender Generationenfolge der Einwandererschaft immer schwieriger, von einer einheitlichen ethnischen (z. B. „indischen“) Sichtweise und von einer Ethnisierung durch Medien zu sprechen. Wenn hier überhaupt ein einheitlicher Begriff verwendet werden kann, dann sollte man in Anlehnung an Roland Robertson von „Glokalisierung“, also dem komplexen Miteinander von lokalen und globalen, von transkulturellen und ethnischen Einflussfaktoren sprechen.

Das Beispiel der Medienumgangsstile der Inder in England weist auf verschiedene, z. T. widersprüchliche Entwicklungstendenzen in der internationalen Medienentwicklung. Zum einen entstehen virtuelle nationale Gemeinschaften. Insbesondere über Satellitenfernsehen wird der Informationsaustausch zwischen Auswanderern und ihren Heimatländern heute intensiver gepflegt als in der Vergangenheit. Es entstehen nationale Öffentlichkeiten in der Diaspora. Die Ausgewanderten verschaffen sich durch die neuen Medien das kulturelle Umfeld, das sie gewohnt sind und das ihnen zusagt. Sie bleiben in engem Kontakt mit dem politischen und gesellschaftlichen Leben in den Heimatländern. Allerdings besteht kein Grund, diese Entwicklung nur von ihrer negativen Seite als Integrationshemmnis und Ethnisierung zu betrachten. Zum einen gibt es bei den Einwanderern nach wie vor wechselnde Grade der Nutzung der auswärtigen Programme und heimatsprachlichen Medien. Zum anderen ist auch ein regelmäßiger Konsum dieser Medien nicht unbedingt als Zeichen der Abwehr gegen die neue Gesellschaft und Kultur des Einwandererlandes zu deuten. Denn viele Einwanderer sind sowohl an Informationen über das Herkunfts- wie über das Einwandererland interessiert. Und, so seltsam es klingen mag: Virtuelle nationale Gemeinschaften und die Orientierung auf den Kontext des Heimatlandes wirken oft nur vordergründig desintegrierend, während sie durch die Hintertür die Akzeptanz gegenüber der Kultur des Einwandererlandes erhöhen, das dem Einwanderer es schließlich möglich macht, seinen eigenen Erfahrungshorizont zumindest virtuell in den neuen Alltag hinüberzuretten und ihm damit geistige und emotionale Orientierung in einer ansonsten entwurzelnden Lebenslage der Diaspora bietet.

Der in den USA lebende iranische Medienwissenschaftler Hamid Naficy hat in einem viel beachteten Werk über iranisches Fernsehen in Los Angeles – auch unter Rückgriff auf Stuart Hall – von einer „strategischen“ Ethnisierung vieler Einwanderer gesprochen, wobei die Nutzung der muttersprachlichen Programme weniger den Zweck verfolgt, die eigene Kultur von der des Einwandererlandes abzugrenzen, als vielmehr der Aufrechterhaltung der eigenen gesellschaftlichen Artikulationsfähigkeit dient, die vor allem bei ersten Einwanderergenerationen an auswärtige Erfahrungen und eine mitgebrachte Sprache gebunden ist.

Die zweite Grundtendenz neben der Entstehung „virtueller Ethnien“ ist der Trend zur Transkulturalisierung. Wo Kulturen auf engstem Raum koexistieren, mischen sie sich in unterschiedlichen Graden. Das als fortschrittlich geltende Konzept der „multikulturellen“ Gesellschaft ist eigentlich auch ein wenig rückständig, denn es basiert auf der Vorstellung der Kugelform von Kulturen, die als grundsätzlich anders und fremd gelten und deren inhärente Spannungen man durch eine friedliche Koexistenz – eben die multikulturelle Gesellschaft – ersetzen möchte. Die Tatsache jedoch, dass Döner-Kebab heute in Deutschland das Fast Food Nr. 1 noch vor der Currywurst ist und auch Mitbürgern nichttürkischer Herkunft schmeckt, ist ein Ausweis einer in Entstehung begriffenen Transkultur. Die „Dönerisierung“ der Medienlandschaft wird länger dauern als die der Gastro-Kultur, aber: Medienkulturen von Einwanderern, das hat das Beispiel der Gillespie-Studien gezeigt, lassen sich nicht auf die passive Inanspruchnahme von Medienangeboten aus der fernen Heimat reduzieren, sondern sie entwickeln sowohl auf der Produktions- wie auf der Konsumptionsseite Eigendynamiken.

Kai Hafez ist wiss. Mitarbeiter des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg, Dozent für internationale Kommunikation am Insitut für Politische Wiss. der Universität Hamburg. Herausgeber von: „Islam and the West in Mass Media. Fragmented Images in a Globalizing World“. Hampton Press, Cresskill, NJ (USA) 2000

Hinweise:Unterschiedliche Einwanderergenerationen nehmen die Angebote unterschiedlich wahrEin Miteinander von lokalen, globalen, transkulturellen und ethnischen Faktoren