Der Moment, der das Leben verändert

Es gehört zu den schwierigen Dingen im Leben eines Kindes, sich für oder gegen etwas zu entscheiden. Man muss nicht nurwissen, was man will, es braucht auch Mut und Stärke, um sich durchzusetzen. Und manchmal heißt kämpfen auch gewinnen

von GABI TRINKAUS

In Büchern greifen Kinder zu ungewöhnlichen Mitteln, ihr kritischer Blick auf den Rest der Welt ist keck und unkonventionell, ihre Eltern haben sie glatt durchschaut. Natürlich erzählen sie ihre Geschichte selbst.

Anna zum Beispiel ist schüchtern. So schüchtern, dass sie am liebsten unsichtbar wäre. Ihre ältere, schöne Schwester ist der dominierende Mittelpunkt der vaterlosen Familie mit wenig Gefühl für den Rest. Die kleinere Schwester liebt Anna. Niemand kann so schöne Puppenkleider nähen wie sie. Trotzdem fällt es im chaotischen Familienleben kaum auf, dass die unscheinbare, zierliche Anna immer unsichtbarer wird, bis sie schließlich verschwunden und fast vergessen ist.

Anna selbst erzählt die unglaubliche Geschichte ihres perfekt versteckten Lebens. Sie fasst den Entschluss, zu verschwinden, als sie gezwungen werden soll, die schützenden Mauern des Hauses zu verlassen, um in die Schule zu gehen. Handwerklich geschickt, baut sie sich in die toten Winkel des alten Hauses ein eigenes Reich, mit geheimem Eingang und Gucklöchern. So kann sie zuschauen, ohne selbst gesehen zu werden, und hören, ohne sprechen zu müssen. Jetzt fühlt sie sich sicher. Mehr Welt braucht sie nicht.

Ihre Familie gewöhnt sich an die unsichtbare Anna, deren Baugeräusche stören, deren Näharbeiten willkommen sind. Fast vergessen sie, dass es Anna gibt. Und Anna vergisst, dass Kindheit kein statischer Zustand ist. Sie hasst Veränderungen, erlebt Wachstum und Pubertät als persönliche Katastrophe. Ihr Haus im Haus wird zu eng. Sie bleibt in den schmalen Gängen stecken.

Ein Brief eines Jungen, der in ihrer Wand steckt, weckt Sehnsüchte, die sie zwingen, den Schritt ins Leben zu wagen. So turbulent sie startet, so pragmatisch endet es. Die Frage der Erwachsenen, mit der alles begann, stellt sich immer noch: Wird sie nun zur Schule gehen oder nicht? Für Anna zweitrangig. Sie beschließt, für ihr verängstigtes Ich ein neues Haus in ihrem Körper zu bauen. Sie wird es selbst beschützen.

Ein ungewöhnliches, interessantes Buch, das ganz schlicht, ohne die Realität zu verlassen, verrückte Situationen schafft und Grenzgänge meisterlich ausbalanciert.Patrice Kindle: „Anna in der Wand“. Verlag Gabriel, 27,90DM, ab 13

Der lange Hans oderDie heimliche Flucht

Hans ist, wie man im Österreich der Jahrhundertwende sagte, ein uneheliches Kind. Damit ist die Zukunft von Mutter und Sohn entschieden. Es ist noch ein Glück, dass die Mutter eine Stelle als Magd in einem Gasthof bekam und Hans mitbringen durfte. Selbstverständlich , dass schon der kleine Hans für Kost und Logis arbeiten muss wie ein Erwachsener. Weil die Mutter eine ungewöhnlich gute Köchin ist, wagt sie es manchmal, ihrer Chefin Kleidung für ihren ständig wachsenden Sohn abzutrotzen. Als die Schulpflicht eingeführt wird, will ihn die Wirtin nicht zur Schule lassen. Der Lehrer kann sich durchsetzen. Aber Hans ist in der Schule nicht glücklich. Er ist der Längste, doch seine Sachen sind zu klein, ausgenommen die Schuhe vom alten Knecht, die sind viel zu groß. Schneller als andere lernt er rechnen und schreiben, aber außer dem Lehrer lachen alle über ihn. Doch richtig schwierig wird seine Situation erst durch den neuen Knecht, der unbedingt Herr werden möchte. Und bei Hans das Herrschen übt.

In diese Situation platzt ein Zirkus ins Dorf. Der Direktor ist begeistert von Hans’ Körperlänge und will ihn in sein Raritätenkabinett aufnehmen. Hans erkennt, dass es möglich ist, sich für ein anderes Leben zu entscheiden. Auch wenn die Mutter dagegen ist. Wer den langen Hans angaffen will, wird künftig dafür zahlen. Doch nicht als Opfer steht Hans im Zelt. Er entwickelt eine rasante Zirkusnummer. Der Applaus zeigt: Sein Leben ist zwar ungewöhnlich, aber besser denn je. Schließlich akzeptiert auch die Mutter seinen Entschluss.

Es ist der Autorin gelungen, mit dem anschaulichen Bilderbogen einer österreichischen Kindheit um 1860 zu zeigen, dass kämpfen auch gewinnen heißen kann, damals wie heute.Susanne Ellensohn: „Der lange Hans oder Die heimliche Flucht“. Oetinger, 19,80 DM, ab 12

Leben ist das, wasman daraus macht

Das Wichtigste im Leben des jugendlichen Ich-Erzählers ist das Video „Herz ist Trumpf“. Seit Jahren schaut er es täglich an. Er liebt Linda, die Hauptdarstellerin, die alle Brücken zu Jütland hinter sich abgebrochen hat und deren dramatische Karriere beinahe in einem miesen Tanzlokal endet. Er kennt jeden Satz, jede Einstellung, die Guten und die Bösen. Seit er in der Psychiatrie ist, kann er es nur einmal am Tag gucken. Willi, sein kräftiger Freund, darf mit zuschauen. Eigentlich geht es ihm ganz gut. In der Therapie darf er so viele Topfuntersetzer basteln wie er will. Und es wäre wohl immer so beschaulich weitergegangen, wenn er nicht eines Tages erfahren hätte, dass seine Film-Linda eigentlich Ulla heißt und irgendwo in Kopenhagen wohnt. Sein Entschluss steht fest, er wird sie besuchen. Zusammen mit Willi bricht er aus.

Geschult am Video „Herz ist Trumpf“, versteht er es, alle Klippen zu umschiffen. Wenn Kälte und Hunger unerträglich werden, sagt er wie Linda: „Wenn man nicht ein bisschen Gegenwind verträgt, taugt man nicht fürs Leben.“ Der starke Willi hilft, wenn das Video nicht hilft, mit Köpfnüssen nach. Deshalb darf Willi Polizeiauto fahren. Das würde unser Held auch gern, aber er will ja Ulla suchen. Als er es schließlich geschafft hat, hat der Leser das Leben aus einer ungewohnten Perspektive kennengelernt, eine andere Art von Logik, von Komik und Tragik, die man so schnell nicht vergisst. Die Macht des Videos bleibt bis zum triumphalen Ende ungebrochen.

„Wenn es naiv ist, an die Liebe zu glauben, ja, dann lasst mich der naivste Mensch auf der ganzen Welt sein.“ Mit diesem Satz verwandelt Linda wütende Polizisten in tief gerührte Zuschauer, die fast vergessen, weshalb sie in Ullas Wohnung gekommen sind. Unser Held verabschiedet sich hoch zufrieden von Ulla. Er hat mit ihr das Video gesehen und darf auch noch Polizeiauto fahren. Manchmal ist das Leben wunderbar. Genau wie dieses Buch.Kim Fupz Akeson: „Ulla und alles“. Aare Verlag, 24,80 DM, ab 12

Muttercontra Tochter

Lucy alias California Whipple wurde von ihrer tatkräftigen Mutter aus dem kultivierten Massachusetts nach Kalifornien in ein Goldgräberdorf verschleppt. Die Mutter setzte ihren Entschluss gegen den Willen der Tochter durch. So sieht das Tochter Lucy, die diese Geschichte erzählt. Statt in einem Haus mit den Großeltern zu leben, zur Schule zu gehen, Bücher aus einer Bibliothek zu holen, sitzt Lucy in einem Zelt im staubigen Kalifornien mit nur einem Buch und muss ihrer Mutter helfen, den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie kochen und beherbergen stinkende Goldgräber. Im goldenen Westen müssen die Kinder arbeiten wie Erwachsene. Lucy leistet Widerstand, wo sie kann. Sie trauert um ihren verstorbenen Vater und muss befürchten, dass einer der Goldgräber Mama heiraten könnte. Sie beschreibt den Großeltern mit spitzer Ironie, traurig und wütend die Realität des Goldrauschs. Sie will unbedingt zurück. Als ihr älterer Bruder stirbt, hat die Mutter erstmals Zweifel an ihrer Auswanderungsaktion. Mutter und Tochter kommen sich vorsichtig wieder näher.

Das Leben in der Wildnis verändert sie beide. Lucy erkämpft sich ihren Platz im Goldgräbernest. Sie verkauft Kuchen, unterrichtet Analphabeten, bekommt Bücher geschenkt, die von Goldgräberloch zu Goldgräberloch wandern und immer den Weg zurückfinden. Ihre Mutter heiratet einen Missionar. Endlich ist Lucy frei. Sie will zurück nach Hause. Doch je näher der Abschied kommt, desto unsicherer wird sie. Sie fällt einen Entschluss. Zuhause ist kein Ort, sondern ein Zustand. Sie will dort zu Hause sein, wo sie gebraucht und geliebt wird.

Die Autorin hat für Lucy alias California einen frischen, kämpferischen Ton gefunden, der Mütter manchmal mit den Zähnen knirschen lässt. Töchter werden die messerscharfen Dialoge und Analysen begeistern.Karen Cushman: „Die Ballade von Lucy Whipple“. dtv, München, 14,90 DM, ab 12

Das Leben ist wie eine Schüssel Spagetti

Die dreizehnjährige Zinny hat schon hin wieder ein Fleischklößchen gefunden, doch manches entpuppte sich als Lehmklumpen. Die Jungen zum Beispiel, die so tun, als meinten sie Zilly. Dabei ist sie nur der Weg, das Ziel ist die schöne, wenig ältere Schwester May. Und May bekommt jeden, den sie will. Überhaupt findet Zilly ihre kinderreiche Familie zu zahlreich, zu laut, zu chaotisch. Sie ist lieber bei Tante und Onkel, die in der anderen, stillen Haushälfte wohnen. Deren Kind ist vor vielen Jahren an Keuchhusten gestorben. Zilly hatte es angesteckt, aber selber überlebt. Sie fühlt sich schuldig. Den Tod der alten Tante packt sie auch auf ihr Konto.

Es ist Tomatenpflanzzeit auf der großen Ranch, dabei stößt Zinny auf einen überwucherten, mit Schieferplatten gepflasterten Pfad. Sie legt Platte um Platte frei, fühlt sich als Forscherin und verteidigt ihn gegen die interessierten Brüder. Im Museum entdeckt sie den verschwundenen Weg auf alten Landkarten, 30 Kilometer lang. Um nicht immerfort an die tote Tante zu denken, beschließt sie, bis zum Winter den ganzen Weg freizulegen. Dann würde sie nicht mehr Zinny die Mörderin sondern Zinny die Entdeckerin sein. Regen Anteil an ihrem Projekt nimmt Jake, ein Junge aus dem Dorf. Doch Zinny traut ihm nicht. Seine kleinen Geschenke erregen ihr Misstrauen. So hatten es die anderen auch gemacht. Sie ist abweisend, was ihn dazu bringt, immer größere Geschenke anzuschleppen. Zinny begreift, dass er klaut.

Sie konzentriert sich ganz auf ihren Pfad. Sie setzt durch, dass sie ganz allein in den Bergen campieren darf. Statt jeden Abend muss sie nur noch alle zehn Tage nach Hause kommen. Sie kämpft mit ihrer Angst und Einsamkeit und hält durch. Sie erwischt Jake, der ihr heimlich gefolgt war. Sie kann nicht zeigen, dass es ihr gefällt, sondern spielt die Wütende. Er schließt ihren Mund mit einem Kuss und flüchtet vor ihren Beschimpfungen. Zu Hause hat man sie doch nicht so vermisst, wie sie hoffte. So geht sie wieder, um ihr Werk zu vollenden. Doch Jake kommt diesmal nicht nach.Sharon Creech: „Ich, Zinny Taylor“. Fischer Schatzinsel, 24,80 DM, ab 12

Kindheit eines Zauberers

Viele Bücher sind über den geheimnisvollen Druiden Merlin geschrieben worden. Seine Kindheit ließen die Schriftsteller im Dunkeln. Dieses Buch schildert die spannende und fantastische Entwicklungsgeschichte des Zauberers. Es beginnt mit einem Schiffbruch an der Küste Englands. Der künftige Merlin hat sein Gedächtnis verloren, und die Frau an seiner Seite will seine Mutter sein. Er glaubt ihr nicht. Sie kommen in einem Dorf unter. Seine Mutter sorgt mit ihren Heilkünsten für ihr Überleben. Manche sehen in ihr eine Hexe, und er ist das Dämonenkind. Den Dorfjungen ist er unheimlich. Dinatius ist sein Feind. Die Auseinandersetzungen mit ihm offenbaren ihm seine Zauberkräfte. Als Dinatius versucht, Merlins Mutter zu verbrennen, lässt Merlin einen brennenden Ast von einem Baum stürzen, der Dinatius unter sich begräbt. Schockiert über seine Tat, rettet Merlin ihn und büßt dabei sein Augenlicht ein. Dann beschließt er, seine Zauberkräfte nie mehr zu benutzen.

Die lange Zeit der Genesung bringt ihn seiner Mutter näher, die sich aber immer noch weigert, seine wahre Herkunft zu verraten. Sein Augenlicht bleibt schwach, aber er hat das zweite Gesicht. Gegen den Willen der Mutter bricht er auf, um seine Herkunft zu erforschen. Er landet in der Zwischenwelt, die von einer unbekannten Gefahr bedroht wird. Ein Baummädchen bittet ihn um Hilfe. Der Falke Merlin wird sein Begleiter. Nur widerwillig lässt er sich ein. Er ahnt lange nicht, dass dieses Abenteuer sein Abenteuer ist. In höchster Gefahr muss er seinen Entschluss aufgeben und von seinen Zauberkräften Gebrauch machen, um zu überleben und die Zwischenwelt zu retten.

Wer sich für fantastische Literatur begeistert, wird mit diesem Buch eine Lücke schließen.Thomas A. Barron: „Merlin, Wie alles begann“. dtv extra, 19,90 DM, ab 12

Bleiben oder gehen

Für Tiger Ann ist das Leben so lange in Ordnung, bis ihre Großmutter stirbt. Ihre Eltern sind geistig behindert, und Großmutter war der funktionierende Mittelpunkt der Familie. Tiger ist zur Verblüffung aller Nachbarn des kleinen Dorfs die beste Schülerin ihrer Klasse. Die Schwester ihrer Mutter hat Karriere in der Stadt gemacht und sich früh entschieden, nicht die Haushälterin ihrer Schwester zu werden. Ab und zu verbreitet sie Stadtflair in der Familie, dann flüchtet sie wieder. Durch den Tod der Großmutter sieht sie sich in die Pflicht genommen. Sie möchte Ann aus ihrer Familie lösen, weil sie in der Stadt viel mehr Enftaltungsmöglichkeiten hätte. Tiger ist hin- und hergerissen.

Doch bevor sie ihren Eltern ihren Auszug ankündigt, öffnet ihr die Haushälterin der Tante die Augen. Sie zeigt Tiger, was sie an ihren Eltern hat, wie viel ehrliche Liebe ihr gilt und worauf sie verzichten will. Ein Hurrikan gibt der Mutter Gelegenheit, zu beweisen, dass sie sich um ihr Kind sorgt wie andere Mütter auch, der Vater in seiner behutsamen, langsamen Art rettet den Kamelienbestand einer Gärtnerei. Sie ist stolz auf ihre Eltern und beschließt zu bleiben.

Das behutsame Buch zeigt Tigers Weg vom Kind zum Erwachsenen. Ihre spannende Suche nach dem, was wirklich wichtig ist, berührt tief.Kimberly Willis Holt: „Vollmondtage“. Altberliner Verlag, 22 DM, ab 10

Fischfang

Auch kleinere Kinder müssen Entscheidungen treffen. Und nicht immer haben sie einen so klugen Großvater wie Raul. Was tut man, wenn ein Kind seinen ersten Fisch fängt? Man kann ihn in die Freiheit entlassen oder in ein Marmeladenglas stecken oder töten, wie das die Erwachsenen machen. Raul hat einen schönen großen Fisch gefangen. Fast hat es zu lange gedauert, bis er anbiss. Kaum liegt er auf dem Trockenen, schreien Fisch essende Restaurantgäste „Tierquälerei!“ und fordern seine Freilassung. Doch der Großvater bleibt ruhig. Raul soll selbst entscheiden. Er tut es. Ein bisschen stolz, ein bisschen traurig. Die großformatigen Bilder fangen sehr schön die vertrauensvolle Atmosphäre zwischen Großvater und Enkel ein.Schulz/Oeser: „Sein erster Fisch“. Peter Hammer Verlag, 26,80 DM, ab 5

Leo Stolperbein

In der Schule heißt der kleine Leo „Stolperbein“. Er ist ungeschickt und langsam. Alle lachen über ihn. Das macht ihn so traurig, dass er nicht mehr zur Schule gehen möchte. Seine liebsten Tiere sind die Schmetterlinge. Er weiß alles über sie. Ganz besonders über die blauen großen Leoniden. Erst träumt er nur, ein Schmetterling zu sein, dann entschließt er sich, einer zu werden. Wie die Raupen vor der Verpuppung beginnt er zu essen, bis er kugelrund ist. Als es nicht runtergeht, verpuppt er sich mit Mutters Garn. Doch als seine erschreckte Mutter ihn auswickelt, ist er immer noch Leo Stolperbein und unglücklicher denn je. Gut, dass es für so dringende Fälle noch Botschafter aus dem Land der Wünsche gibt.

Ein liebevolles Büchlein mit vielen Schmetterlingsbildern.Hartmann Kaergel: „Leo Schmetterling“. Nagel & Kimche, 24,80 DM, ab 8