Existenzform Bastel-Biografie

Aufbruchstimmung im Elfenbeinturm: Statt nach Fachidioten schreit die Technologiegesellschaft nach genial-dilettantischen Generalisten. Von einer Festanstellung auf Lebenszeit können die meisten aber nur träumen

von GISA FUNCK

Als Arno Orzessek im Januar 1995 die Kölner Universität verlässt, kann er nach zwölf Semestern ein exzellentes Zeugnis vorweisen. Mit einer Note von 1,1 hat der 28-jährige Magisterabsolvent nur knapp das Prädikatsexamen verfehlt. Auf der Suche nach einer Anstellung aber nützt ihm das wenig. Denn mit Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte hat Orzessek eben jene Fächer studiert, vor denen ihn sein Berufsberater stets gewarnt hatte. Das famose Stellen-Informations-System des Kölner Arbeitsamtes spuckte an drei Tagen hintereinander denselben Satz aus: „Germanist – heute leider keine Angebote“, erzählt Orzessek rückblickend.

Eine niederschmetternde Erfahrung, die die meisten der bundesweit ungefähr 30.000 Geisteswissenschaftler machen, die jährlich ihr Studium abschließen. Durchschnittlich 45 von ihnen, ermittelte das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IWD), konkurrieren um eine ausgeschriebene Stelle – Tendenz weiter ansteigend, da ihre traditionellen Arbeitgeber wie Museen, Bibliotheken und Verlage auch künftig Personal einsparen werden. Trübe Aussichten also für hochgezüchtete Schöngeister vom Schlage Orzesseks?

Keineswegs, versichern neuerdings die Experten in ungewohnter Einmütigkeit. Geisteswissenschaftler müssten ihr Scheitern nur – sozusagen gemäß Schlingensiefschem Credo – als Chance begreifen und sich „den eigenen Beruf erfinden“, wie Claudio Gallio das nennt. Der ehemalige Gießener Politik- und Geschichtsstudent mit Wohnsitz Berlin hat unter diesem Titel soeben ein Buch im Campus-Verlag herausgebracht. Thema: Die Bastel-Biographie als typische Existenzform des modernen Magister Artium.

„Wer sich heute an der Philosophischen Fakultät einschreibt, kann nicht mehr damit rechnen, eine klassische Karriere als Angestellter auf Lebenszeit zu machen“, resümiert Gallio, der sich ebenso wie die in seinem Werk vorgestellten Fallbeispiele freiberuflich im „Patchwork“-Stil verdingt: Mal schuftet er als Lektor, mal als Autoren-Scout, dann wieder als PR-Berater. „Für die Arbeit in unserer Mediengesellschaft braucht man weniger Fachwissen als Flexibilität und Kommunikations-Vermögen“, weiß der erprobte Einzelkämpfer und hat erfahren, dass das einst so verpönte Job-Hopping in Boombranchen wie Internet und Marketing längst zur Erfolgsstrategie gehört.

Nach zwei Rezessionsdekaden des gehypten Spezialistentums schreit die erstarkte Technologiegesellschaft des angebrochenen Jahrtausends mit einem Mal wieder nach dem genial-dilettantischen Generalisten, die von Branche zu Branche switcht und gerade wegen seiner „soft skills“ begehrt ist.

„In den Konzernen sind die Tätigkeiten interdisziplinärer geworden, der Kontakt zum Kunden spielt eine ganz entscheidende Rolle“, erklärt IWD-Forscherin Christiane Konegen-Grenier diesen Trend. Und der Kunde, haben die Personalchefs erkannt, möchte keinen verbildeten Spitzenkönner. Der Kunde, so Konegen-Grenier, will einen, „der reden kann, organisieren, der kreativ und unkonventionell handelt“.

Und so einen entdecken die Personalchefs immer öfter in der Kant-Vorlesung. Die Folge: Wittgenstein goes Wirtschaft. „Jeder zweite Betrieb in Deutschland ist inzwischen gewillt, einen Geisteswissenschaftler einzustellen, sofern der bereit ist, sich im Nachhinein Fachkenntnisse anzueignen“, bilanziert die IWD-Frau das Ergebnis einer aktuell von ihr erstellten Umfrage zu 117 Trainee-Programmen. Danach haben sich die Firmen bereits flächendeckend auf akademische Quereinsteiger eingestellt und trimmen sie intern in Schnellkursen von null auf BWL.

Ein prominentes Beispiel: die Düsseldorfer Unternehmensberatung McKinsey. Über die Hälfte der Mitarbeiter waren einst komplette Wirtschaftslaien wie etwa Stefanie Teichmann, die erst englische Literatur studiert hat, bevor sie ins Big Business einstieg. „Unter uns finden Sie durchaus Philosophen“, vermeldet Teichmann nicht ohne Stolz, „entscheidend für die Einstellung sind ein vielseitiger Lebenslauf und sehr gute Noten.“ Ob man Letztere jedoch mit Luther oder Leitzinsen eingeheimst habe, das, sagt sie, sei „völlig egal.“

Die Frage nach dem Fach gerät im Jobgerangel 2000 zur Formalie. Hauptsache: ein Hochschulabschluss – worin auch immer. Diese Devise, bei den europäischen Nachbarn von jeher im Schwange, setzt sich nun auch bei deutschen Bossen durch. Dahinter steht die Einsicht, dass die Universität, ganz gleich welche Sparte, in jedem Fall unzureichend auf ein Berufsleben vorbereitet, dessen Profil sich – quasi im Minutentakt – ändert. Da ist ein Amerikanistikstudium genauso „zukunftsträchtig“ wie Jura oder BWL.

Entsprechend herrscht Aufbruchsstimmung im Elfenbeinturm. Dessen ambitionierte Bewohner geben sich – anders als die Vorgängergeneration – selbstbewusst und bieten Kommilitonen unter so verheißungsvollen Namen wie „Student und Arbeitsmarkt“ (München), „Mit Leibniz zu Bahlsen“ (Hannover) oder schlicht „Geist und Wirtschaft“ (Köln) Nachhilfe in EDV, Vertrieb und Bewerbung an. Mit hoher Erfolgsprognose. Für jeden zweiten Teilnehmer, so das IWD, wird eine solche Initiative zum Karriere-Ticket.

Arno Orzessek hingegen, mittlerweile gefragter Print- und Radiojournalist, nutzte nach drei umtriebigen Monaten das eigene Dilemma. Nachdem er eine Stelle als „Gebietsleiter für den Vertrieb von Klarsichthüllen“ ausgeschlagen hatte, schrieb er eine Glosse, die die Zeit abdruckte. Unter der Überschrift „Angebot vom Zauberberg“ behandelte er darin seine Arbeitslosigkeit als Geisteswissenschaftler.