Ein afrikanisches Dorf in der Stadt

Arbeitsmigranten aus dem westafrikanischen Sahel kämpfen in Paris um ihre Wohnheime. Was Behörden als Angriffauf ihre theoretischen Integrationsmodelle ablehnen, bedeutet für ganze Familien und Dörfer aktive Solidarität

von ANNA SCHRADE

Das Foyer ist ein afrikanisches Dorf in der Stadt. „Alles, was man bei uns zu Hause findet, findet man auch hier im Foyer“, sagt Djanni, während sie dampfenden Reis aus der Schüssel schöpft und in großen Töpfen mit verschiedenen Saucen rührt, die auf mindestens zwanzig Gasbrennern vor sich hin kochen. In dem niedrigen, gekachelten Raum riecht es nach Fett, Fleisch und Blut. In einer Ecke zerhacken junge Männer das Fleisch von ganzen Ziegen und Lämmern, rote Rinnsale suchen ihren Weg über den Boden zum Abfluss. Djanni arbeitet als Köchin hier im Foyer, in einem Wohnheim für Arbeitsmigranten im Pariser Vorort Montreuil, der unter den vielen Einwanderern aus dem westafrikanischen Sahel auch das kleine Mali genannt wird.

Gemeinsam mit einigen Helfern kocht Djanni Tag für Tag Subganja, Maffé, Sakasaka, Djiep und andere westafrikanische Gerichte für 300 „offizielle“ und noch einmal so viele „inoffizielle“ Bewohner des Foyers. „Offiziell“ können in dem von einer französischen Wohnungsbaugesellschaft verwalteten Gebäude nur allein stehende Männer wohnen. Tatsächlich haben jedoch über 70 Prozent dieser so genannten „travailleurs célibataires“ eine Familie in Mali, Senegal oder Mauretanien.

Frauen und Kinder leben im Foyer nur inoffiziell. Und das gilt auch für die „Sans Papiers“, die meist jüngeren Migranten, die ohne gültige Papiere in Frankreich sind. Sie kommen bei Verwandten und Bekannten unter. In die engen Zimmer mit zwei „offiziellen“ Betten werden dann zusätzliche Matratzen geschoben. Zum Essen kommen einige Besucher aus der Nachbarschaft ins Foyer. Denn hier, in der selbst verwalteten Kantine, kostet eine Mahlzeit drei Mark; so günstig kann man in Paris an keinem anderen Ort essen. „Durch meine Arbeit helfe ich meinen Landsleuten, ein bisschen Geld zu sparen“, erklärt Djanni, „schließlich ernähren wir unsere Familien zu Hause. Von einem Arbeitsmigranten, der hier in Paris ist, leben in Mali zehn bis zwanzig Personen.“

Djanni ist nicht die einzige, die ihre Arbeit im Foyer als Dienst an der Gemeinschaft versteht. Im Keller des verwohnten Gebäudes aus den Siebzigerjahren gibt es neben dem Raum für die Moschee eine Schneiderwerkstatt, im Hof werden Autos repariert und ausgeschlachtet. Ersatzteile sind in den Heimatländern eine immer begehrte Ware.

Was als Nachbarschaftshilfe begann, ist inzwischen für viele zur einzigen Verdienstmöglichkeit geworden. Die meisten Migranten aus den ländlichen Regionen des frankophonen Westafrika kommen als ungelernte Arbeiter nach Frankreich und sind heute überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Für viele von ihnen werden die 255 „Foyers für Arbeitsmigranten“ im Großraum Paris zum einzigen Ausgangspunkt auf der Suche nach neuen Erwerbsmöglichkeiten. Heute organisiert sich über die Wohnheime ein informelles Wirtschaftssystem zwischen Frankreich und den Herkunftsländern, durch das sich einerseits ihre Bewohner zu einem großen Teil selbst versorgen, durch das andererseits die Verwandten „zu Hause“ notwendige Waren und Güter „bestellen“ können.

„Bei uns in Mali findest du die Telefonnummern der großen Foyers in jeder öffentlichen Telefonzelle“, erzählt Ali Traoré, der als mobiler Friseur im Foyer arbeitet. Heute, am Samstag, haben er und seine Kollegen ihre Spiegel und Stühle einfach im Treppenhaus aufgestellt. Mitten zwischen die Kleinhändler, die auf provisorischen Verkaufstischen all das anbieten, was man sonst erst nach einigen Stationen Busfahrt in der Stadt bekommt: Obst, Joghurt, Kekse, Zigaretten und vieles, was es auch auf den Märkten der Heimatländer gibt: Von Zahnhölzern, Stoffen und Maniokwurzeln zu Kunsthaarzöpfen und einer großen Auswahl an Kassetten und Videos afrikanischer Stars.

Laut hallt die melancholisch-schrille Stimme der malischen Sängerin Na Hawa Doumbia durch das Treppenhaus, in dem heute dichtes Gedränge herrscht. Am Wochenende ist das Foyer auch für die Migrantenfamilien aus den umliegenden Sozialwohnungen der zentrale Treffpunkt. Ali Traoré hängt gerade das Pappschild mit den aufgeklebten Frisuren über seinen Spiegel, als sich auch schon der erste Kunde setzt. „Wir arbeiten hier vor allem, um unseren Cousins einen Gefallen zu tun, und dann erst zu unserem eigenen Vorteil“, beschreibt er das System im Foyer. „Wenn zum Beispiel mein Cousin hier zu einem Friseur in die Stadt fährt, dann kostet ihn das ein Metroticket, und außerdem würde er viel mehr zahlen als bei mir.“

Die zuständigen französischen Behörden wie das „Ministerium für Arbeit und Solidarität“ und das „Wohnungsbauministerium“ sowie die jeweiligen Kommunalverwaltungen haben die Entwicklung in den Foyers lange Zeit kaum wahrgenommen. Der Bau der Foyers in den Sechziger- und Siebzigerjahren war eine schnelle Maßnahme gegen die in städtischen Randgebieten entstandenen Slumsiedlungen und andere „illegalen Wohnformen.“ Eine gezielte Wohnungspolitik gegenüber den ins Land geholten Arbeitsmigranten gab es damals nicht. Heute, im Zuge der Vereinheitlichung europäischer Einwanderungspolitik, sieht man darin eine Fehlentwicklung.

Die Foyers seien „Zonen außerhalb des Rechtsbereichs der Republik“, heißt es entsprechend in dem Bericht einer interministeriellen Untersuchungskommission (Cilpi) zu den Foyers von 1996. Sie stellten eine Gefahr für das republikanische Integrationsmodell dar, „das keine Gruppenbildung billigt“. Als Reaktion auf diesen Bericht gründete sich ebenfalls 1996 das „Komitee für die Zukunft der Foyers“ (Copaf), durch das Vertreter verschiedener Foyers gemeinsam mit einigen französischen Aktivisten die Anliegen der Bewohner gegenüber Behörden und Öffentlichkeit vertreten. Das Copaf setzt sich nun dafür ein, dass der „Lebensraum Foyer“, den sich die Migranten durch Eigeninitiative und gegen viele Widerstände in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben, erhalten bleibt. Es fordert den Bau neuer Foyers beziehungsweise einen Umbau der hoffnungslos überbelegten und heruntergekommenen Gebäude. Dem Leben in der Gemeinschaft soll dabei durch genügend Kollektivräume (Versammlungsraum, Moschee, Kollektivküche etc.) Rechnung getragen werden.

Doch bei den zuständigen Behörden hat man für die Zukunft der Foyers andere Pläne. Dort werden die Bewohner der Foyers unter der Kategorie „Sozialfälle“ wahrgenommen, denen durch einen begrenzten Aufenthalt in geplanten neuen Modell-Heimen (so genannten „résidances sociales“) und mit Hilfe einer verordneten Betreuung durch Sozialarbeiter schließlich die Integration in die französische Gesellschaft gelingen soll.

„Die Behörden und die Medien betrachten die Foyers als eine Art Schmutzflecken in der Stadt, den man sauber machen und wegwischen sollte“, erklärt Michel Hoare, linker Filmemacher und Mitstreiter des Copaf, die Situation: „Wir dagegen sind davon überzeugt, dass gerade heute, wo so viele Menschen in Frankreich völlig auf sich allein gestellt sind und im Elend landen, die Solidarität in den Foyers einen positiven Ansatz bedeutet.“

Mallet Touré, der sich zusammen mit drei anderen aus seinem Heimatdorf ein 10-Quadratmeter-Zimmer im Foyer teilt, empört sich: „Sie reden nur von Integration.“ Oumar, Senghor, Baba und die anderen, die an diesem Samstagnachmittag in dem engen Zimmer zu Besuch sind, sprechen bei laufendem Fernseher über die aktuelle Politik gegenüber den Foyers. Oumar, der in seinem langen Boubou auf einem Koffer sitzt, erklärt: „Wir haben hier im Foyer eine Solidarität, die nicht nur für hier wichtig ist, sondern auch für unsere Projekte in den Dörfern.“ Er kramt in einer Schublade nach ein paar Fotos. Sie zeigen einen einfachen Lehmbau, einen Innenraum mit einer Schultafel und Frauen, die sich mit Eimern und Kalebassen um ein Wasserbecken drängen. „Durch unsere Arbeit konnten wir bei uns in Yélimané eine Schule bauen und eine Wasserpumpe einrichten“, kommentiert er die Fotos.

Wie viele Migranten aus der Region des Senegalflusstals im Dreiländereck Mali, Senegal, Mauretanien sind auch Baba, Oumar, Senghor und Mallet in einer „association villageoise“ organisiert, in einem Verein für die Realisierung von Entwicklungsprojekten in ihren Heimatdörfern. Als eingetragene Vereine, die sich in den letzten zwanzig Jahren in beachtlicher Zahl gegründet haben (im Großraum Paris gibt es 105), können die Migranten öffentliche Gelder für ihre Projekte beantragen, und sie erhalten Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen (wie „Afrique Vert“ oder der GRDR, der „Gruppe für ländliche Entwicklung“). Doch den bei weitem größten Anteil der Projektfinanzierung leisten sie durch ihre eigenen Ersparnisse.

„Unser Verein hat seinen Sitz hier im Foyer“, erklärt Mallet die Situation. „Wir verwalten hier eine Kasse, in die jeder aus unserem Dorf einzahlt, der eine Arbeit hat. In der Politik war es doch immer so: Das Geld, das Frankreich oder die anderen Länder bereitstellen, wandert direkt in die Taschen des Funktionärs, dem man den Scheck übergibt.“ Mallet war von den hier Anwesenden damals der Erste, der nach Paris ging, um seiner Familie zu Hause in Yélimané, wo Anfang der Siebzigerjahre eine Dürre auf die andere folgte, das Überleben zu sichern. „Als ich hier ankam, 1973, hat es noch überall Arbeit gegeben. Die Unternehmen haben sogar Busse ins Foyer geschickt, um die Leute anzuwerben. Wir konnten hier Geld verdienen, es nach Hause schicken und hin und wieder auch mal ausgehen, uns amüsieren“, sagt er lachend. Dann wird er wieder ernst. „Heute ist es für die jungen Leute viel schwerer. Sie haben keine Papiere, keine Rechte, und wenn sie eine Arbeit finden, dann arbeiten sie schlimmer als Sklaven. Aber das wenige Geld, das du hier verdienst, teilst du am Ende des Monats mit deiner Familie und anderen Verwandten zu Hause. Auch sie rechnen nur mit dir. Also, wie willst du da jemals aussteigen aus dieser Situation. Wie?“