Afghanistan: Jeder Zweite soll gefeuert werden

Die von den Taliban angekündigte Rationalisierung des Staatsapparats ist in Wahrheit ein weiterer Schlag gegen die Rechte der Frauen

KABUL taz ■ Schreibtische, die weder ein Blatt Papier noch ein Kugelschreiber ziert. Frierende Angestellte, die bis über ihre Vollbärte in Decken gewickelt sind. Am meisten haben die Hausdiener zu tun, die den heißen Tee zubereiten, der so manchen Kabuler Schreibtischinhaber vor dem Kältetod rettet.

So sah es in Afghanistans Ministerien nicht nur unter den Taliban aus. Doch die wollen das Problem der chronischen Unterbeschäftigung bei anhaltender Bezahlung jetzt lösen – auf ihre Weise, radikal. Am Donnerstag verkündete Außenminister Ahmad Wakil Mutawakkil, den man am wenigsten mit diesem Thema in Verbindung bringen würde, dass bis zur Hälfte aller Ministerialangestellten in Kabul sich demnächst auf der Straße wieder finden werden. Entlassen werde in den Abteilungen, „in denen es keine Möglichkeit oder keine Notwendigkeit zu arbeiten gibt“, so der Minister. „Es gibt 35 bis 50 Prozent Entlassungen in jedem Ministerium“, bestätigte ein anderer hoher Taliban-Funktionär.

Was wie eine Effektivierung des Beamtenapparats aussehen soll, ist in Wirklichkeit ein weiterer Schlag gegen die Rechte der Frauen. Minister Mutawakkil kündigte nämlich auch an, dass unter den Entlassenen alle weiblichen Angestellten sein werden.

Die Logik ist perfide: Wer nicht arbeitet, fliegt – dabei waren es die Taliban, die den Frauen verboten, weiter außer Haus zu arbeiten, als sie im Sommer 1996 Kabul eroberten. Um dies in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht allzu unsozial wirken zu lassen, erließ Taliban-Chef Mullah Muhammad Omar damals ein Edikt, dass die Frauen eine Zeit lang arbeiten dürften.

Die Taliban scheren sich aber schon seit längerem nicht mehr um die Weltöffentlichkeit. Ob sie Büros der UNO verwüsten, der sie gerade Immunität zugesichert hatten, oder weiter unverhohlen den Export von Opium dulden und dafür Steuern abkassieren – die Taliban sehen sich selbst als Opfer einer internationalen Verschwörung unter Führung der USA. Den Vereinten Nationen werfen sie vor, mit ihren Sanktionen die Ursache für den andauernden Krieg zu sein. Das stellt die Tatsachen auf den Kopf. Denn bisher verweigern die Taliban jedes Gespräch mit ihren Gegnern, pumpen jeden müden Afghani in den Krieg und lassen die internationalen Organisationen für die Zivilbevölkerung sorgen.

Auch die Sorgen der entlassenen Frauen lösen sich laut Minister Ahmad Wakil Mutawakkel ganz einfach. „Wir haben keine unmittelbaren Pläne, den Entlassenen Arbeit zu geben“, sagte er am Donnerstag in Kabul. „Aber sie können sich selbst Arbeit suchen und ihr freies Leben nutzen.“ Auch ihre bisherigen kargen Gehälter werden nun die Kriegsmaschinerie der Taliban schmieren, die ihre diesjährige Frühjahrsoffensive vorbereiten und dabei erstmals erhebliche Probleme haben, neue Kämpfer zu rekrutieren. Die Lücken werden mit Islamisten aus Pakistan, arabischen Staaten und den mittelasiatischen GUS-Republiken aufgefüllt.

Afghanistan scheint wieder in einem der zyklischen Wellentäler zu versinken, das die von Willkür geprägte Berg-und-Tal-Politik der Taliban auszeichnet. Beobachter in der Region bringen den verschärften Kurs der Taliban mit der jüngsten Sitzung des UN-Sicherheitsrats zum Thema Afghanistan in Zusammenhang. Ende vergangener Woche hatte das Gremium der ultraislamistischen Bewegung eine Verschärfung der im vergangenen November verhängten Sanktionen angedroht, sollte sich deren Menschenrechtsbilanz nicht bessern und sollte sie weiter den international gesuchten Islamisten-Chef Usama bin Laden nicht ausliefern. JAN HELLER