piwik no script img

Irgendwo zwischen Tradition und Ritual

■ Selbst Nachrüstung, Golfkrieg und Kosovo brachten nur 5-6000 Menschen auf Straße

Internationaler Frauentag, 1. Mai, Antikriegstag und Ostermarsch – Tradition oder Ritual? In den vergangenen 20 Jahren bewegten sich die Ostermärsche zwischen diesen Polen auf und ab – an die Bedeutung, die sie in den 50er Jahren hatte, konnten die Märsche aber nie anknüpfen. Trotz einer starken Friedensbewegung Anfang der Achtziger Jahre, atomarer Bedrohung, dubioser Rüstungsgeschäfte oder sogar mittelbarer oder unmittelbarer Kriegsbeteiligung der Bundeswehr gingen die Massen zum Osterspaziergang nicht immer auf die Straße.

Die waren im heißen Herbst noch da: 1983 versammelten sich in der Hamburger City 400.000 Menschen auf dem Rathausmarkt, um gegen den Nato-Doppelbeschluss, die Stationierung von atombespickten Pershing II Mittelstreckenraketen und Cruise Missiles-Marschflugkörpern auf deutschem Boden zu protestieren, die Richtung Osten gerichtet waren. Am gleichen Tag belagerten 20.000 Menschen den Springer-Verlag, um gegen die Berichterstattung der Bild-Zeitung zu protestieren.

Zwar spielte sechs Monate später der Nato-Doppelbeschluss eigentlich beim Ostermarsch 1984 immer noch die zentrale Rolle, doch brachte die atomare Bedrohung durch die Raketen nur noch 5000 TeilnehmerInnen auf die Straße. In den Folgejahren nahm die Teilnahme stetig ab, obwohl die Friedensbewegung und das Hamburger Forum bemüht waren, die Flügel – von pazifistischen Christen bis aktionsbereiten Autonomen – unter einen Hut zu bringen und auch lokale Themen bei den Märschen in den Vordergrund zu stellen: Die Rüstungslieferungen via Hamburger Hafen, die Unterstützung der Türkei im Kampf gegen die Kurden oder den Bau von Fregatten bei Blohm&Voss für totalitäre Militärs sowie die Errichtumg von Nato-Depots in der Nordheide als Offensiv-Strategie gegen den Warschauer Pakt.

Selbst der Golf-Krieg gegen den Irak, der noch Anfang 1991 Hundertausende auf die Strasse brachte, mobilisierte zu den Ostermärschen nicht. Im Gegenteil: Im Vergleich zu den Vorjahren zählten die Koordinatoren noch weniger Menschen – nach Ende des Golfkrieges war die Betroffeheit offensichtlich abgeklungen. Ketzerisch machte daher die Umwandlung der Friedensformel „Stell Dir vor es ist Krieg und niemand geht hin“, bei in der Regel nur 500 TeilnehmerInnen die Runde: „Stell dir vor, es ist Ostermarsch und keiner geht hin.“

Die deutsche Bundeswehrbeteiligung am Kosovo-Krieg hat den Ostermarsch dagegen wieder an Bedeutung gewinnen lassen. Im vorigen Jahr beteiligten sich allein in Hamburg 6000 Menschen an dem Marsch, um einen Stopp der Bombardements Jugoslawiens und die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen durchzusetzen. Im Kosovo aber herrscht immer noch kein Frieden, die Bundeswehr ist noch immer involviert, und die Flüchtlinge von damals sollen nunmehr ins das Kriegsgebiet abgeschoben werden. Von daher ist die Losung des Vorjahres auch in diesem Jahr gültig: „Wir dürfen die Schwachen nicht allein lassen.“ Kai von Appen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen