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Kakerlakenfreie Zeiten

New York nach dem großen Saubermachen von Bürgermeister Rudolph Giuliani: Manche haben mehr Angst vor der Polizei als vor Überfällen, auch die Dealer schieben Panik

von OLE SCHULZ

Eigentlich sieht alles aus wie immer: Rund um den Brunnen hängen Stadtstreicher, Touristen und Studenten. An den steinernen Schachbrett-Tischen am Rande des Washington Square sitzt ein Obdachloser, der sein Hab und Gut in einem Einkaufswagen verstaut hat, schiebt die Figuren wortlos über das Brett. Ein Rasta liegt mit dem Kopf auf seinem Schlafsack auf der Parkbank und liest Upton Sinclairs „Der Dschungel“. Und immer noch wird einem hier am Washington Square in Downtown Manhattan zugezischelt, ob man nicht weed haben wolle. Aber spätestens wenn man versucht, etwas zum Rauchen zu kaufen, wird klar, dass sich in New York einiges geändert hat: Die Dealer schieben Panik. Erst soll man dem Mann möglichst unauffällig durch die Nebenstraßen folgen, dann erleidet er bei der Übergabe fast einen Nervenzusammenbruch.

Das Risiko im Knast zu landen ist groß, seit der Bürgermeister Rudolph Giuliani die zero-tolerance-Parole ausgegeben hat. Von den 70.000 Inhaftierten in den Gefängnissen des Staates New York sitzt inzwischen schon ein Drittel wegen non-violent drug crimes ein. Viele New Yorker holen sich ihr Gras nur noch über einen telefonischen Bestellservice. Das weed wird frei Haus geliefert, was diskreter und ungefährlicher ist als der Straßenhandel.

Ein paar Blöcke östlich vom Washington Square wohnt Carlos Viner in einer Sozialwohnung. „So viel Platz haben wir hier.“ Viner breitet seine Arme aus und präsentiert stolz sein Reich. Der 52-Jährige ist Community-Aktivist in einer der – derzeit noch – ärmsten Gegenden Manhattans. Vom Wohnzimmer, wo seine Frau vor einem metergroßen Fernsehbildschirm sitzt, führt er uns zu den zwei kleinen Zimmerchen, in denen seine beiden Kinder wohnen. Ein Drei-Zimmer-Apartment für 250 US-Dollar – ein wahrer Luxus für New Yorks City-Bezirk Manhattan, wo die Ware Wohnraum zu den knappsten und teuersten Gütern gehört.

Auch der blitzblanke Boden und die graffiti-freien Wände im Hausflur sehen nicht so aus, wie man sich US-amerikanische Sozialghettos vorstellen mag. „Die Mieter putzen das Haus auch selbst“, sagt Viner. In einigen anderen Gebäuden in der Reihe von gleichförmigen projects, die Präsident Roosevelt hier am Rande Manhattans in den 40ern bauen ließ, sehe es ganz anders aus. „Da haben sie oben schon wieder in das Treppenhaus gepisst, wenn der Hausmeister gerade fertig mit Fegen ist.“ Ordnung und Sauberkeit hält Viner, der zehn Jahre lang in der US-Army gedient hat und heute bei der Stadtverwaltung angestellt ist, vor allem in sozial angespannten Vierteln für äußerst wichtig.

Nur wer nicht mehr als 28.000 Dollar im Jahr verdient, ist berechtigt, sich für eine der begehrten Wohnungen zu bewerben. Doch Viner befürchtet, dass die Privatisierungswelle, die Bürgermeister Giuliani nach seinem Amtsantritt 1994 ausgelöst hat, auch vor den städtischen Sozialwohnungen keinen Halt machen wird. Als er davon hörte, dass die Miete drastisch erhöht werden soll, begann er die Nachbarn zu organisieren. Denn seitdem die Gegend zwischen den Avenues A und D, auch Alphabet City genannt, ihren schlechten Ruf verliert, ziehen die Preise an. In einem der hübschen brownstone-Häuser um die Ecke, in der 9. Straße, wo vor einem Jahr das letzte besetzte Haus der Nachbarschaft geräumt wurde, ist ein Zwei-Zimmer-Loft nicht unter 3.000 Dollar zu haben.

Viners Viertel im östlichen Teil von East Village war um die Jahrhundertwende ein Zentrum der Einwanderer aus Europa; vor allem osteuropäische Juden lebten hier – inzwischen ist das Gebiet fest in der Hand der Hispanics. Auf den Straßen hört man neben dem kruden East-Coast-HipHop auch traditionellen Plena aus Puerto Rico, im Deli vor der Tür gibt es spanischsprachige Tageszeitungen und dominikanisches Bier. Die Hispanics stehen kurz davor, die Afroamerikaner als größte Minderheit New Yorks abzulösen; gemeinsam stellen sie fast die Hälfte der Einwohner. Bei den Jungs, die auf der Straße abhängen, sind eng an den Kopf geflochtene Haarsträhnen in Mode, wie sie auch Bad Boy Latrell Sprewell trägt, der neue Basketball-Star von den New York Knicks. Im Gangster-Outfit rumzulaufen, ist bei den Jugendlichen in Viners Nachbarschaft zwar immer noch modern, aber die Zeiten, als sich Banden im Dunkeln Schießereien lieferten, sind vorbei.

Der umstrittene mayor Giuliani verbucht das als persönlichen Erfolg, doch gut zu sprechen auf Rude Rudy – so sein Spitzname – ist hier so gut wie keiner. Die gewalttätigen Übergriffe von Polizisten auf farbige Mitbürger haben ihre Spuren hinterlassen. Allein zwei Jahre hat es gedauert, bis der weiße Cop Justin Volpe zugab, dass er dem schwarzen Immigranten Abner Louima aus Haiti einen Besenstiel tief in den After gerammt und ihm anschließend mit ebendiesem Stock die Zähne ausgeschlagen hatte. Inzwischen müsse man mehr Angst vor den Cops haben, als davor überfallen zu werden, scherzen die New Yorker. Giuliani sei „a brother of Mussolini“, so ein Broker an der Bar über die Law-and-Order-Politik. Sogar auf der Toilette im Keller wird die Diskussion geführt: „Giuliani is a racist. Kill Killer Kops“, steht an der Wand geschrieben. „No, he saved hundreds of black & latino lives by cutting the murder rate“, heißt es daneben. Darunter steht: „Bullshit – murder rates are down all over the country.“

Sicher ist: Einen Joint auf der Straße oder in einem Club zu rauchen, ist heute in New York ein ebenso gefährliches Vorhaben, wie ein Bier in der Öffentlichkeit zu trinken – auch wenn man es wie früher mit einer braunen Papiertüte getarnt hat. Aber trotz der rigiden Gesetze und allzeit patroullierender Polizisten gibt es Drogen immer noch an vielen Orten zu kaufen: Wer in Alphabet City zu lange an einer Straßenecke rumsteht, der wird mit einiger Wahrscheinlichkeit irgendwann gefragt werden, ob er weed, Koks oder Crack haben wolle.

Und irgendwie erscheint es so widersinnig wie unmöglich, diesen Moloch gleichsam radikal von Unrat und unliebsamen Menschen säubern zu wollen. Mit Sicherheit stößt in New York der Reinlichkeitswahn der puritanischen Amerikaner ständig an seine Grenzen: Die Stadt stinkt, ist so laut, dass man sich als unschuldiger Besucher schon nach wenigen Tagen nach ein bisschen Ruhe sehnt, erstickt tagtäglich im Verkehrschaos.

Der Bezirk Staten Island auf der anderen Seite des Hudsons versinkt buchstäblich im Müll: Hier liegt mit Fresh Kills die größte Müllhalde New Yorks. Schon vor Jahren sollte die Deponie, die an einigen Stellen sogar die Freiheitsstaue überragt, geschlossen werden, aber keiner weiß wohin mit dem Müll.

Die größte Verbesserung ihres Lebensstandards verdanken die New Yorker den Fortschritten der Insektenvertilgungsindustrie: Seit es Combat gibt, ist es vorbei mit den Tagen, als Heerscharen von fetten Kakerlaken lautstark das Weite suchten, sobald man den Lichtschalter in seiner billigen Absteige angeknipst hatte. Jetzt werden die Kakerlaken mit vergiftetem Futter in plastene Spiralen gelockt – von dort schaffen sie es gerade noch, in das Innere der Wohnungswände zurückzukriechen, wo sie jämmerlich verenden. Da Kakerlaken selbst ihre verstorbenen Artgenossen verspeisen, setzt sich der tödliche Kreislauf weiter fort.

Dass das große Reinemachen New Yorks letztlich aber nicht möglich ist, ist so offensichtlich wie der Preis, der für die allseits gepriesene Wiederbelebung des städtischen Lebens gezahlt wird: Obdachlose und sozial Deklassierte werden regelmäßig – und meist recht rüde – des Platzes verwiesen. Nun will die Stadt auch noch den Nachbarschaftsgärten an den Kragen, die seit Ende der 60er-Jahre auf überwiegend städtischen Grundstücken in Baulücken und auf Brachland angelegt wurden. Mehr als 650 solcher community gardens gibt es im Betondschungel New York – die meisten von ihnen liegen in Vierteln, in denen vornehmlich Arme und Immigranten leben. Es sind liebevoll gepflegte grüne Oasen, in denen Anwohner auf einigen wenigen Quadratmetern Gemüse und Blumen anpflanzen und sich am Wochenende zum gemeinsamen barbecue treffen. Weil diese Gärten für Giuliani nur „wirtschaftlich nutzlose Flächen“ sind, die „endlich wieder Erträge bringen müssen“, würde er sie am liebsten alle verkaufen. Letztes Jahr wurde die Versteigerung von 112 Gärten erst in letzter Sekunde verhindert. Im Februar ließ Giuliani schließlich den Esperanza Garden mit einem Bulldozer von Demonstranten räumen, obwohl der Fall zur gleichen Zeit vor Gericht verhandelt wurde.

“Der Bürgermeister scheint zu denken, dass man erst bulldozern und Fragen danach stellen könne. Ich glaube nicht, dass man seinen Weg zum Senat bulldozern kann“, lautete der Kommentar der First Lady Hillary Clinton. Als Kandidatin der Demokraten tritt sie im November zur Wahl um den Senatssitz des Bundesstaates New York gegen den Republikaner Giuliani an. Weil sie nach jüngsten Umfragen knapp hinter Giuliani liegt, versucht Hillary Clinton, sich zunehmend von ihrem liberalen Image zu distanzieren – sogar für die Todesstrafe hat sie sich unlängst ausgesprochen.

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