Die Revolution verpennt

Die neuen Erkenntnisse der Biowissenschaften werden die Gesundheitsversorgung und die sozialen Sicherungssysteme erschüttern. Die Politiker verstehen davon nichts und schweigen
von CLAUS KOCH

Es war zu viel Feuilleton auf dem Platz, und das ist kein gutes Zeichen. Die beiden großen Bio-Sensationen der letzten Monate, also der Sündenfall des Europäischen Patentamtes mit der Patent-Gewährung für Stammzellen-Projekte und das Craig-Venter-Feuerwerk zur Genom-Entschlüsselung, wurden an erster Stelle von den Kulturredaktionen der Medien diskutiert. Also von Leuten, die gerade in dieser kulturarmen Zeit gerne in der Wissenschaft und der Ökonomie herumspekulieren, um ein wenig Boden unter die Füße zu kriegen. Zwar haben sich die Zeitungen bemüht, das Publikum durch solide Fachleute zu unterrichten, aber die Überflutung mit allerlei Phantasmen war stärker. Und es fragt sich, ob durch die Unmassen von Information, halbgarer Vision und verworrener Debatte mehr Licht in die Köpfe gekommen ist.

Seit der Geburt der ersten Retortenbabys, Louise Brown, vor mehr als 26 Jahren hat sich der Strom der wissenschaftlichen Erfolgsmeldungen ständig verbreitert und beschleunigt, somit auch die Dringlichkeit der dadurch aufgeworfenen moralischen, politischen und rechtlichen Problemlagen. Was dabei erschrecken sollte, ist die völlige Abwesenheit der Politik. Von den Politikern, auch den Fachministern, hört man bei jedem neuen Ereignis nur die immer gleichen und hilflosen Defensivbeschwörungen: Wir werden auf keinen Fall das Manipulieren an der Keimbahn zulassen, der geklonte Mensch kommt gar nicht in Frage, mit uns wird es den gläsernen Menschen nicht geben, der Missbrauch genetischer Informationen muss unbedingt verhindert werden etc. Zumeist wohlfeile Wiederholungen von hundertmal Gesagtem, und man kann es dem Gesicht des Politikers ablesen, dass er nicht einmal merkt, dass er an den wahren Aktualitäten vorbeiredet. Aber es stellt ihn auch niemand zur Rede und fragt ihn, was er als das soziale und politische Problem an der wissenschaftlichen Neuerungstat ansehe, was die Rolle der Regierung sei. Der Feuilleton-Mensch bleibt so lieber zu Hause bei seinem Sloterdijk und sinniert mit Nietzsche weiter. Oder man befragt weiter die Experten über ihre Ansichten und einschlägige Moralprobleme, zu denen sie meist nur Banalitäten mitteilen können.

Was nun in Craig Venters Siegesfanfare wirklich steckt oder nicht, dies ist ein Politikum ersten Ranges. Nicht nur die Gesundheits- und die Medizinpolitik, sondern auch die Renten- und die Rechtspolitik müssten laut die Glocken klingen hören; und die zuständigen Regierungs- und Parteipolitiker wären erklärungspflichtig darüber, wie die politischen Planungen aussehen. Doch da hört man nichts. Geradezu peinlich ist das verlegene Schweigen der Gesundheitsministerin und des Arbeits- und Sozialministers, in deren Häusern man sich längst den Kopf zerbrechen müsste. Schließlich ist das Humangenom-Projekt, finanziert auch von der deutschen Regierung, seit mehr als zehn Jahren unterwegs, und die Wissenschaftler sparen nicht mit Ankündigungen, was man alles damit wird anfangen können. Nun kommt es fast fünf Jahre früher zum Abschluss, als noch 1998 erwartet, aber es trifft die Regierungen, die Versicherungen, die Krankenkassenverbände und die Ärzteorganisationen völlig unvorbereitet.

Sie können offensichtlich nicht wahrnehmen, dass es um Revolutionäres geht, dass dem sozialen Sicherungssystem und der gesamten Organisation der Gesundheitsversorgung harte Umwälzungen ins Haus stehen. Wenn zum Beispiel der französische Genetiker Daniel Cohen, zugleich ein erfolgreicher Forschungsunternehmer, plausibel voraussagt, dass in spätestens 30 Jahren 90 Prozent der Vorbeugung gegen die großen Massenkrankheiten nicht auf medikamentöse Weise, sondern durch eine Anpassung an die Umweltbedingungen betrieben werden wird, so ist das ein Politikum ersten Ranges. Oder wenn man annehmen kann, dass in zwei Jahrzehnten 80 Prozent des ärztlichen Handelns und der täglichen ärztlichen Aktion in Vorbeugung bestehen wird, so geht es nicht weniger ums gesamte sozialstaatliche Institutionengefüge. Und wenn man schon heute damit beginnt, die ärztlichen Therapiestrategien spezifisch auf jeden Patienten anzulegen, dann fordert dies eine tief greifende Änderung im medizinischen Ausbildungs- wie im Praxissystem. Weil dies mit einer stochastischen Suche nach dem genetischen Kern des Leidens oder Defektes geschehen kann, man also nicht mehr eine theoretisch-empirische Begründung oder Gesetzlichkeit für den Therapieprozess voraussetzen muss, geht es auch um die Basis des wissenschaftlichen Handwerks. Und wenn schließlich aus hinlänglichen Gründen erwartet werden kann, dass man in etwa zehn Jahren mit der gentechnisch angeleiteten Behandlung von einigen Massenkrankheiten wie Diabetes oder Fettsucht beginnen kann, dann steckt darin nicht zuletzt die Notwendigkeit einer Totalrevision der Krankenversicherungssysteme. Denn damit werden große Gruppen aus der Notwendigkeit der Risikoteilung und der Versicherungssolidarität genommen: Man kann ihre biologische Zukunft zu genau bestimmen, sie können nicht mehr auf die alte Weise versichert werden.

Wenn dies alles bereits heute als demnächst eintretende soziale und politische Situation definiert werden kann, dann wird auch schnell klar: Wir steuern direkt auf ein neues Präventivsystem der Gesundheitssicherung zu, das die heutigen Institutionen und Sozialtechniken von Grund auf revolutionieren muss. Und das verlangt von den Individuen wie von der Industrie wie vom Staat neue Verhaltensweisen, die jetzt allen höchst unbequem erscheinen. Es wird wieder mehr Staat, viel mehr Staat geben müssen. Und der Bürger-Patient muss endlich lernen, was ihn weder Wohlfahrtsstaat noch Marktgesellschaft haben lehren können: mündig und für sich selbst verantwortlich zu sein. Davor haben sie alle miteinander Angst.

Am meisten Angst haben die Politiker. Sie dürfen gar nicht wagen, die Versicherungsindustrie, die Krankenkassen, die Pharmaindustrie oder die Ärzteverbände gezielt zu fragen, was da alles ins Haus steht. Denn sie würden die Öffentlichkeit beunruhigen; also das tun, was man im ja noch immer herrschenden korporatistischen System keinesfalls riskieren darf: vorbeugende Aufklärung betreiben, und zwar über künftige Bedrohungslagen, für die man keinerlei Rezept hat, weil die eigenen Apparate ebenso wie die Wähler/Konsumenten davon nichts wissen wollen.

Auch dies ist eine Folge der sozialdemokratischen Modernisierung des Staates. Es sind die Vorwarnmechanismen des vorsorgenden Wohlfahrtsstaates, des état providence, so gründlich zerstört worden, dass die Parteipolitiker von niemandem eine Orientierung über das bekommen können, was ansteht. Und man muss befürchten, dass dies ebenso für die Industrie und die Versicherungsorganisationen gilt. So wird sich demnächst in aller Schärfe zeigen, was man mittlerweile wissen könnte: dass der Markt, gar der allherrschende Finanzmarkt, mindestens ebenso viel an Orientierung zerstört, wie er durch die entfesselte Konkurrenz zu schaffen verspricht.

Hinweise:Das allanwesende Feuilleton reagiert mit den immer gleichen Pawlow-ReflexenViele Politiker merken nicht, dass sie an den wahren Aktualitäten komplett vorbeireden