„Lebe wild und gefährlich!“

Unsere Gesellschaft geht mit dem Thema Sucht zu leichtfertig um. Drogen werden entweder verharmlost oder verteufelt. Die Suchtkranken und ihre Bedürfnisse geraten aus dem Blick
von CHRISTA NICKELS

Es war einmal ein Land, in dem es freien Zugang zu allen nur erdenklichen psychotropen Substanzen gab. Werbung dafür wurde nicht gemacht. Die Erwachsenen gingen verantwortungsbewusst mit solchen Stoffen um, weil sie wussten, dass sie zwar positive Wirkungen haben können, aber auch das Potenzial, die Gesundheit und die Psyche zu schädigen. Schon die Kinder und Jugendlichen erlernten frühzeitig Rituale, die es ihnen ermöglichen sollten, eine selbstverantwortliche und bewusste Entscheidung für oder gegen den Konsum zu treffen ...

Wie jeder weiß, hat die Wirklichkeit mit derlei märchenhaften Wunschvorstellungen wenig gemein. Suchtmittel sind in unserer Gesellschaft allgegenwärtig, der Missbrauch auch. Illegale Stoffe werden nach wie vor verteufelt, für legale hingegen wird geworben, und es werden mit ihnen Steuereinnahmen erzielt. Menschen, die sich für Verzicht entscheiden, müssen sich dafür rechtfertigen.

Nach wie vor ist die Denke weit verbreitet, die Sucht zum „Laster“, zum abweichenden Verhalten und zur kriminellen Aktivität erklärt und die Abhängige zu charakterschwachen Versagern stempelt. Und das ist eine Klaviatur, die sich – ähnlich wie offene oder latente Fremdenfeindlichkeit – trefflich zur Instrumentalisierung für ideologisch motivierte Grabenkämpfe eignet, die dann auf dem Rücken von Betroffenen, ihren Familien, Freunden und Helfenden ausgetragen werden. Ich halte nichts von selbst ernannten Drogenkriegern, die mit der Parole „Keine Macht den Drogen“ Kette rauchend und Bierseidel stemmend „nationale Drogenbekämpfungspläne“ austüfteln. Die einäugige Fixierung auf die illegale Suchtproblematik hat durchaus eine alttestamentarische Sündenbockfunktion. Wer alle rhetorische und politische Kraft einseitig auf die „Bekämpfung“ illegaler Drogen und – leider allzu oft – der Abhängigen richtet, der entbindet sich selbst von der Verantwortung, gleichzeitig auch das ganze Ausmaß an körperlichem und seelischem Leid in den Blick zu nehmen, das durch Abhängigkeit in unserer Gesellschaft entsteht.

Wir wissen, dass in Deutschland über 14 Millionen Menschen von Zigaretten abhängig sind, was erhebliche gesundheitliche Risiken in sich birgt. Hunderttausend Menschen sterben jährlich infolge tabakbedingter Erkrankungen. Bei fast neun Millionen besteht ein riskanter, gesundheitsschädlicher Alkoholkonsum, bei 2,7 Millionen davon ein missbräuchlicher Konsum und bei 1,7 Millionen eine behandlungsbedürftige Alkoholerkrankung. 2,5 Millionen Kinder leben in Familien mit abhängigen Eltern. 1,4 Millionen Menschen – die meisten davon Frauen – sind von Medikamenten abhängig. Rund 100.000 Menschen sind heroinsüchtig. Es gibt zahlreiche Kokainabhängige. Schließlich gehen wir von über 200.000 Cannabis-Konsumenten mit täglichem Gebrauch aus.

Dieses Ausmaß von Sucht kann uns nicht kalt lassen!

Die Alternative kann aber nicht die Illusion von der suchtmittelfreien Gesellschaft sein. Die gab es nie und wird es auch nicht geben. Vernünftige Drogenpolitik kann nicht mit fundamentalistischem Eifer, moralinsauer oder mit erhobenem Zeigefinger gemacht werden. Sie muss nüchtern, sachlich und an der Lebenswirklichkeit der Menschen ausgerichtet sein.

Das A und O ist, Kinder stark zu machen, damit sie es nicht nötig haben, ihre Sehnsüchte mit Rauschmitteln zu stillen. Ein Teil der Jugendkultur ist heute geprägt von einer Kombination aus Freizeitspaß, Techno-Tanz-Kult und Mischkonsum von allem Möglichen, was „gut kommt“. Hier ist glaubwürdige Aufklärung angesagt, die nicht moralisiert, aber Bewusstsein für die Risiken schafft und nichts beschönigt. Dazu gehört auch der „peer support“, also die Einbindung der Gleichaltrigen in ein solches Programm. Eine vernünftige Drogenpolitik ist aber auch dadurch gekennzeichnet, Wirkstoffe nicht sinnlos zu verteufeln. Seit einem Jahr arbeiten wir daran, Cannabis als Medizin für bestimmte schwere Krankheitsbilder zu ermöglichen.

Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit: Gegen erhebliche Vorbehalte und Widerstände haben wir das Gesetz zur Qualitätssicherung der Substitutionsbehandlung und zur rechtlichen Absicherung von Drogenkonsumräumen durchgebracht – in einer großen Koalition der Vernunft von Bundestag und Bundesrat. Damit haben wir auch einen wesentlichen gesellschaftlichen Grundkonsens für diese notwendige „Abrüstung im Drogenkrieg“ erzielen können. Wir haben so einen wichtigen Beitrag zur Milderung des Elends langjährig Heroinabhängiger geleistet und gleichzeitig den untragbaren Zustand beendet, dass die Mitarbeiter dieser Einrichtungen bislang immer mit einem Bein im Gefängnis standen.

In einem Modellversuch wollen wir die heroingestützte Behandlung von Abhängigen erproben. Die Vorbereitungen dafür in einer Koordinierungsgruppe von Städten, Bundesländern und Bundesregierung kommen gut voran. Unser Ziel ist es, dem Grundsatz „Sucht ist Krankheit“ und „Hilfe vor Strafe“ noch mehr Geltung zu verschaffen und unser ausdifferenziertes Hilfesystem zu sichern und zu ergänzen.

Eine moderne Gesellschaft muss lernen, mit dem Problem Sucht in seinen verschiedensten Ausprägungen umzugehen – nicht ideologisch, sondern vernunftgeleitet. Menschen mit Suchtproblemen dürfen nicht entmündigt und an den Rand gedrängt werden, doch wäre die Glorifizierung eines abhängigen Lebens ebenso fatal. Die Parole „Lebe wild und gefährlich“ als Schönreden einer Suchterkrankung lehne ich als verantwortungslos ab, da sie das körperliche und seelische Leid der Süchtigen verharmlost.

Meinen Handlungsmöglichkeiten als Drogenbeauftragte der Bundesregierung setzt der Koalitionsvertrag enge Grenzen, so zum Beispiel bei der Legalisierung von Cannabis. Hier leiste ich meinen Beitrag zur Versachlichung der Debatte – die aber nur gesamtgesellschaftlich vorangebracht werden kann. Ich stehe zu den Möglichkeiten und Grenzen meines Amtes und habe deshalb auch niemandem einen Rosengarten versprochen, als ich es angetreten habe. Dass gerade die traditionell obrigkeitskritische Linke sich auf einmal von einer einzigen Amtsperson alles erwartet, bis hin zum Bruch des Koalitionsvertrages und dem Verstoß gegen internationale Übereinkommen, will mir einfach nicht in den Kopf! Aber offensichtlich verlangt der Abschied von den alten ideologischen Feldschlachten um den „Königsweg“ in der Sucht- und Drogenpolitik deren Protagonisten einiges ab: Die Konservativen müssen Abschied von einer lieb gewordenen Einseitigkeit und Eindeutigkeit nehmen, die die Welt in Schwarz und Weiß aufzuteilen pflegt, und müssen endlich in der Paradoxie des Lebens ankommen. Die Linken hingegen müssen den Mythos vom verfolgten „lonesome hero“ ad acta legen, der mittels „Trainspotting“-Heroinkicks einen rebellischen Schutzwall gegen das Spießbürgertum errichtet.

Zitate:Die einäugige Fixierung auf die illegale Sucht hat SündenbockfunktionNoch stärker muss gelten: „Sucht ist Krankheit“ und „Hilfe vor Strafe“