Am kleinen Kreuz

Wahre Lokale (17): Das Kamener „Krümel“

Ein großer, ein wahrer Satz: Die Familie ist die Keimzelle des Staates. Keine Ahnung, weshalb sie das ist. Aber es wird schon stimmen. So wie ganz gewiss dies stimmt: Das „Krümel“ ist die Keimzelle der Kamener Gastronomie. Doch der Reihe nach.

Stellen Sie sich eine kleine Stadt in Westfalen vor, knapp 50.000 Einwohner, übersichtlich aufgeteilt, in sich geschlossen, gleichwohl zugänglich (Autobahnen, Eisenbahnen, Segelflugplatz). Diese Stadt ist Kamen; sie hat einen Puff (draußen, bei den Autobahnen), eine Fußgängerzone und eine so genannte Kneipenszene (drinnen, um den Marktplatz herum). Vor allem hat sie das „Krümel“. „Ja, muss es denn nicht heißen, sie hat den ‚Krümel‘?“, höre ich Sie fragen. Und ich höre mich antworten: „Pffft!“ Wir reden hier über eine Institution, nicht über Kekse. So!

Wir reden hier über eineInstitution, nicht über Kekse

Das „Krümel“ behauptet sich tapfer an einem ungünstigen Standort: nämlich eingezwängt zwischen einer Arztpraxis und der städtischen Volkshochschule, zwischen zwei Stätten, deren Präsenz nicht eben dazu angetan ist, nach Zerstreuung lechzende Menschen in den Zustand entrückter Zufriedenheit zu versetzen. Und das ist nicht der einzige widrige Umstand: Grob geschätzt beträgt die Nettozechfläche im „Krümel“ nicht mehr als zehn Quadratmeter – auf den ersten Blick kaum der Rede wert. Hingegen liegt der Vorteil für Geselligkeit Suchende auf der Hand: Man braucht sich bloß mit vier, fünf Freunden zum „Krümel“-Abend zu verabreden und hat schon die Gewissheit, in einer angenehm gefüllten Gaststätte zu sitzen.

Warum heißt es wohl Keimzelle und nicht Keimhalle?

Seine Funktion als Keimzelle gastronomischen Treibens erfüllt das „Krümel“ – als wär’s ein Gesetz der Natur – stets im Frühling eines Jahres, wenn die Säfte steigen und die Alkoholika sowieso. Stammgäste beobachten fasziniert ein immer wiederkehrendes Schauspiel: Scheue Abiturienten finden sich ein, weil sie der Meinung sind, kurz vor dem Abi wär’s langsam an der Zeit, mit dem Saufen anzufangen. Und weil Anfänger sich nicht blamieren wollen, bevorzugen sie eine Gaststätte, in der sie unter sich sind – weil außer ihnen niemand mehr hinein passt. Überlegen Sie einmal, warum es Keimzelle heißt und nicht, zum Beispiel, Keimsaal oder Keimhalle! In aller Ruhe erwerben die Abiturienten also in der Keimzelle Fähig- und Fertigkeiten für den zügigen und halbwegs kontrollierten Verzehr von Bier und Wein und Schnaps, und wenn sie sich sicher genug fühlen, ziehen sie von unserem kleinen Kreuzknoten hinaus in die Welt – über den Markt (sechs Kneipen), die Hauptstraße hinunter (fünf Kneipen) und bis zum Ortsausgang (eine Polizeiwache). Ein würdevoller Initiationsritus, wie wir Alten finden. Und ein unterhaltsamer obendrein – für uns zumindest.

Dass die Jugend uns zeitweise aus dem „Krümel“ verdrängt und uns zum Ausweichen in benachbarte Etablissements zwingt – Schwamm drüber. Wir kommen wieder, spätestens, wenn das Pack studiert. Oder für die Nachprüfung büffelt, weil es im Vollrausch die Abiklausuren vergeigt hat. Und in den Zeiten, da keine Abiturienten im „Krümel“ aufkreuzen – was dankenswerterweise zirka zehn bis elf Monate im Jahr der Fall ist –, sorgen wir Alteingesessenen für jenen Umsatz, der die Keimzelle am Leben hält. Wir tun das aus Verantwortung für die neuen Jungen, die im nächsten Jahr da sein werden, ihr trinktechnisches Rüstzeug zu erwerben. Und weil wir uns im „Krümel“ selbst noch so schön jung fühlen. Jedenfalls zu jung für die Arztpraxis oder die Volkshochschule. ANDREAS MILK