Für Bauern ist Bildung überflüssig

Aber in Ho-Chi-Minh-Stadt sind die Schulen zu klein. Vietnams Bildungssystem 25 Jahre nach dem Krieg

HANOI taz ■ Die Lehrerin hält inne. Ein Papierflieger ist auf ihrem Pult gelandet. Leise fragt sie nach dem Störenfried. Einer ihrer Achtklässler meldet sich. Die Lehrerin für Biologie und Staatsbürgerkunde hält ihm einen Vortrag über Höflichkeit, über die Achtung Älteren gegenüber. Die 60-Jährige erzählt, wie sie früher jedes Papierstück sammeln musste, damit das Feuer zum Kochen angezündet werden konnte. Heute, sagt sie, sei das nicht mehr nötig. Die meisten Familien hier in Dogh Nam, einem ländlichen Vorort Hanois, haben inzwischen einen Gaskocher.

Nur einen Raum weiter unterrichtet ihre junge Kollegin Van Englisch. Wenn bei der 23-jährigen Van ein Papierflieger landet, sendet sie ihn einfach an den Schüler zurück. Van hat es nicht nötig, an Autoritäten und traditionelle Werte zu mahnen, wie es das vietnamesische Schulgesetz von ihr verlangt. Dass sie Englisch unterrichtet, ist Autorität genug. Ohne die Sprache der ehemaligen Kriegsgegner aus den USA kann man heute in Vietnam nichts mehr werden.

Van hat ein gutes Auskommen. Ihr schmales Gehalt bessert sie mit zusätzlichem Unterricht auf – für die eigenen Schüler. Das ist offiziell erlaubt. Nur Schüler, die wirklich begabt sind, können dem regulären Unterricht mit dünnen Lehrbüchern folgen, die nach alter Tradition nur Grammatik vermitteln. Der Rest braucht Zusatzunterricht, und der kostet.

Kostenlos ist in Vietnam der Schulbesuch längst nicht mehr. GrundschülerInnen unterliegen zwar bis zur 5. Klasse der Schulpflicht – die nur in der Theorie gratis ist. In der Praxis aber werden die Eltern für die Instandsetzung der Schulen, für die Schuluniform und für Zusatzunterricht zur Kasse gebeten.

In ländlichen Regionen, wo die Schulen aus allen Nähten platzen und den bettelarmen Gemeinden das Geld zum Neubau fehlt, tolerieren die Behörden sogar, dass Kinder nach der 2. Klasse die Schule verlassen, um in der Familienwirtschaft zu arbeiten. Hier herrscht der unausgesprochene Konsens: Für die Bauernfamilien ist Bildung überflüssig, und für die Gemeinden ist sie ein zu teurer Luxus.

Doch selbst in Regionen wie Hanoi hinken Finanzausstattung, Wissens- und Wertevermittlung in der Schule der boomenden Privatwirtschaft hinterher. Ein funktionierendes Steuersystem, mit dem der Staat am Aufschwung teilhaben könnte, existiert nicht. Viele LehrerInnen sind in die freie Wirtschaft abgewandert. Selbst wer nicht als Fachkraft in einer ausländischen Firma unterkam, konnte als Kraftfahrer oder Verkäuferin mehr Geld verdienen denn als Pädagoge.

Der Staat verdoppelte 1996 einmalig die LehrerInnengehälter, trotzdem decken die Einkommen nicht den Lebensunterhalt. Vans 60-jährige Kollegin etwa, die so viel Wert auf die vietnamesische Tradition legt, verschweigt, dass sie selbst ihr Essen noch über dem offenen Feuer erwärmen muss.

Für die Lehrerbildung wurden die Anforderungen heruntergeschraubt. Um in einer Grundschule zu unterrichten, genügen der Abschluss der neunten Klasse, ein paar Jahre Lebenserfahrung und ein einmonatiger Pädagogik-Crashkurs. Für Mittel- und Oberschulen muss man allerdings studieren. Doch auch an den pädagogischen Instituten wurde das Niveau gesenkt – sonst fänden sich keine BewerberInnen für den Lehrerberuf, der unattraktiv ist. Prüfungsfragen für Lehranwärter etwa tauchen schon mal in den Witzspalten der vietnamesischen Zeitungen auf.

Um als Englischlehrerin gerüstet zu sein, belegte Van zusätzlich zu ihrem Studium an der pädagogischen Hochschule in Hanoi Englischkurse an der Hochschule für Fremdsprachen – für die sie zusätzlich zu den ohnehin fälligen Studiengebühren zahlen musste. Eine Investition, die sich lohnte, merkt die junge Frau heute. Weil sie die Sprache sicher spricht und statt sturer Grammatikpaukerei mit ihren Schülern auch Dialoge führt, sind ihre Lehrangebote sehr beliebt. Auch Erwachsene wollen Englisch lernen.

Anders als Gemeinden in strukturschwachen Gebieten kann Hanois Vorort Dogh Nam die alten Schulen ausbauen. Es wird modernisiert, hie und da wird sogar ein neues Schulgebäude eröffent. Vor zwei Jahren eröffnete eine private Mittelschule ihre Pforten. Die Nachfrage ist groß, obwohl die Eltern hier für die Ausbildung ihrer Sprösslinge noch tiefer in die Tasche greifen müssen. Anders als in entlegenen Gebieten lohnt Investition in Bildung in den Wachstumsregionen für eine spätere berufliche Karriere.

Wie in der staatlichen Mittelschule sitzen auch in der Privatschule fünfzig SchülerInnen aus den geburtenstarken Jahrgängen eng an eng in einer Klasse. Vierzig sind offiziell erlaubt. Jetzt baut die Gemeinde eine Oberschule, damit die AbiturientInnen nicht mehr zwölf Kilometer mit dem Fahrrad nach Hanoi fahren müssen.

Die Sitten wandeln sich freilich schneller, als die junge Lehrerin Van glauben möchte. Ein Neuntklässler hat gewagt, die frischverheiratete Lehrerin zu fragen, ob sie mit ihrem Mann glücklich sei. Van hat keinen Skandal aus dieser Unverfrorenheit gemacht. Nach einer Schrecksekunde antwortete sie. „Yes, I am.“ Der Junge hatte schließlich in fehlerfreiem Englisch gefragt. MARINA MAI