Eine Leiche als Kommilitone

Und der Tod als Klassenziel: Der Dokumentarfilm „Tisch No. 6“ folgt Medizinstudenten beim Sezieren

Erinnert sich noch jemand an die mehrteilige True-Violence-Filmreihe „Faces Of Death“? Die galt Mitte der 80er als schwer kultivierter Härtetest für die größten aller Splatterfans. Da war echter Tod drin – in Form von Unfällen, Exekutionen oder Tierversuchen, pseudowissenschaftlich umgarnt von falschen Männern in Weiß. Insgesamt ein riesengroßer, voyeuristischer Quatsch, der den Thrill im Kill suchte.

Carola Noelle Hauck hat mit derlei Sensationszwang nichts am Hut. Ihr Dokumentarfilm „Tisch No. 6“ rollt den Leichnam von der Uni-Seite auf. Die 31-jährige Filmemacherin hat sich in ihrer Schwarzweißproduktion eine Gruppe Studenten der Humanmedizin von der Uni Freiburg ans Skalpell geheftet. Diese treffen im Kurs „Makroskopische Anatomie“ allesamt zum ersten Mal auf einen echten Toten und müssen diesen neuen Freund ein Semester lang präparieren. Noelle Hauck nutzt die Konfrontation der Kommilitonen mit dem Leichnam zur Fragestunde nach Sinn und persönlichen Qualitätsmaßstäben: Was ist Leben? Besitzt ein toter Körper eine Persönlichkeit? Wenn ja, wohin wandert sie, wenn ihr Wirt Schnitt für Schnitt in Einzelteile zerlegt wird? Aber „Tisch No. 6“ ist nicht nur ein als „besonders wertvoll“ deklarierter Beleg für das Wechselspiel aus Ekel und berufsbedingter Versachlichung, sondern thematisiert auch dessen filmische Dramatisierung.

An den Anfang setzt Noelle Hauck die betriebsame Geschwätzigkeit der Studenten in Gegenschnitten zur Leichenwäsche durch die Profi-Präparatoren. Skrupel breitet sich aus, als dem Verstorbenen der Rücken aufgetrennt wird. Die Beschäftigung mit Toten wird zur Charakterstudie der Kursteilnehmer. Da ist der kindliche Seelenvermuter, der den Geist des Toten achselzuckend im Irgendwo vermutet. Oder jene Studentin, der die Hohlräume des Körpers gar nicht tief genug sein können.

Zu Weihnachten aber, der Kurs neigt sich dem Ende entgegen, wird kaum noch präpariert, sondern locker geplauscht. Klassenziel erreicht, der Tod als zukünftiger Teil eines anstrengenden Berufsalltags. OLIVER ROHLF

„Tisch No. 6“. Deutschland 1998. Regie: Carola Noelle Hauck. Schwarzweiß, 83 Min; Kino Hackesche Höfe, Mitte, 20 Uhr. Heute Abend in Anwesenheit der Regisseurin und des Produzenten