Modern, gerecht, aber wie?

Die SPD versucht, ihr traditionelles Spezialgebiet „soziale Gerechtigkeit“ neu zu definieren – und holt sich Rat aus England. Parteivize Wolfgang Clement warnt vor „schmerzhaften Diskussionen“ und sieht ein neues Godesberg heraufziehen

aus Berlin KARIN NINK

Im Dezember vorigen Jahres beschloss der Parteitag, die Grundsätze der Sozialdemokraten zu überarbeiten. Nun geht die Programmpartei SPD ans Eingemachte und will eines ihrer „Herzstücke“ neu definieren: Gerechtigkeit.

Im Berliner Willy-Brandt-Haus diskutierten gestern Spitzengenossen und Wissenschaftler die Frage, wie die SPD Gerechtigkeit auch im 21. Jahrhundert schaffen will. Die Debatte darum sei mit „weitreichenden, vielleicht auch schmerzhaften Diskussionen verbunden“, warnte NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement, der auch stellvertretender Parteivorsitzender ist – und scheute nicht den Vergleich mit dem Godesberger Programm von 1959.

Clement machte in der Diskussion deutlich, dass Gerechtigkeit auf herkömmlichen Wegen nicht mehr zu erreichen sei. „Wer Gerechtigkeit auf traditionellen Wegen ansteuert, wird Schiffbruch erleiden“, zeigte er sich als gelehriger Schüler des Briten Anthony Giddens. Der New-Labour-Vordenker und Mitverfasser des Schröder/Blair-Papiers war als Gast geladen. Prophylaktisch wehrte Modernisierer Clement die „plakative Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Gleichheit“ ab: „Wer glaubt, dass alles sozial gerecht sei, was Gleichheit produziert, irrt.“ Massive Umwälzungen, die mit der Globalisierung und der Entwicklung von neu- en Technologien einhergingen, machten ein neues Verständnis von Gerechtigkeit nötig, bei dem die „Gleichheit der Chancen, aber nicht die Gleichheit der Ergebnisse“ gewährleistet werden solle.

Da offensichtlich aber noch keiner – auch Clement nicht – so genau weiß, wie moderne Gerechtigkeit aussehen soll, flüchtet er sich bei der entscheidenden Frage in Phrasen: „Das Ziel muss sein, die vertretbaren Ungleichheiten und die wünschenswerten Gleichheiten in ein produktives und ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen.“ Nötig seien eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und mehr Eigenverantwortung für den Einzelnen. „Der Schlüssel für soziale Gerechtigkeit“ sei eine gute Bildungspolitik mit „Integration aller“, aber auch – und das ist neu bei der SPD – „Förderung der Spitzenbegabten ohne Hemmungen und Halbherzigkeiten“.

Blair-Berater Giddens, der sich in vielem wiederfand, was Clement sagte, forderte ein „neues europäisches Sozialmodell“, das die europäischen Regierungen „links der Mitte“ zusammen verwirklichen sollten. Entscheidend für eine neue Politik der Gerechtigkeit seien Vollbeschäftigung und größere Verantwortung des Einzelnen. Der Vorsitzende der SPD-Programmkommission, Verteidigungsminister Rudolf Scharping, kündigte an, bei der Grundsatzdiskussion neben SPD-Mitgliedern und Bürgern auch die europäischen Partner einbinden zu wollen.

Scharfe Kritik mußte sich die SPD von Meinhard Miegel anhören. Der langjährige Berater des CDU-Politikers Kurt Biedenkopf kritisierte, die SPD habe keine neuen Positionen erarbeitet, sondern nur solche adaptiert, die in Grundsatzpapieren der Union schon in den 70er-Jahren diskutiert worden seien.