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Rosige Zukunft für die Kakerlaken

Den Anpassungsfähigsten gehört irgendwann die ganze Welt: Die Jubiläumsausstellung „durchreise“ im Künstlerhaus Bethanien ist eine Bestandsaufnahme des Unterwegsseins. Mit ihr verabschiedet sich der Gründer und Leiter des Künstlerhauses Bethanien, Michael Haerdter

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Zügegucken gehört zu den Leidenschaften von Emmett Ray, dem zweitbesten Gitarristen der Welt in Woody Allens Film „Sweet and Lowdown“. Ob es Fernweh sei oder die Sehnsucht nach Kindheit, will eines Tages eine Frau von ihm wissen. Emmett, schwärmerischer Romantik gänzlich abgeneigt, versteht nur Bahnhof.

Wer nicht nur gerne Züge guckt, sondern auch Spekulationen über Bewegung, Veränderung und Identität liebt, kommt jetzt im Künstlerhaus Bethanien auf seine Kosten. Die Ausstellung „durchreise“ empfängt den Besucher mit allen Zeichen der Unruhe und des Unbehausten. Filme laufen auf zerknitterten Leinwänden, die man wie eine Zeltwand hochschlagen muss. Überall türmt sich Hausrat, und über dem Gerümpel hängt eine Fahne von Bogomir Ecker mit einer Prognose für das Jahr 2352: Urbanen Nomaden, Kakerlaken und Ameisen sagt er eine Zukunft voraus. Den Anpassungsfähigen gehört die Welt.

Rivka Rinn hat Wartende auf dem Alex fotografiert: In den Zonen des Wartens und des Unbestimmten ist sie einem Zustand auf der Spur, der zunehmend von uns Besitz ergreift. Jean Daniel Berclaz füllt 22 Zeitungsseiten mit über 1.000 Fotos aus Bahnhofshallen, Hotelzimmern, Tankstellen. Die Aufnahmezeit steht dabei: alle drei Sekunden ein Bild. In der Beschleunigung verwischen die Konturen, und der Blick hält bald nichts mehr.

Der Künstler als Nomade, der über die allgegenwärtige Mobilität nachdenkt, hat Michael Haerdter, der sich mit „durchreise“ vom Künstlerhaus Bethanien verabschiedet, von jeher begeistert. Nicht nur weil er als Gründer des Künstlerhauses stets Stipendiaten aus aller Welt betreut hat, sondern weil die Reise für ihn zum Bild der Sinnsuche schlechthin geworden ist. Die äußere Bewegung ist nur logische Folge der Suche nach neuen Kontexten und Funktionsbestimmungen der Kunst.

Die Ankunft allerdings klappt nicht immer. Wie üblich entstehen beim Reisen Übersetzungsprobleme. So hat der Amerikaner Mark Dion Material für eine Schulstunde ausgebreitet, in der er das Vokabular aus George Bushs Wahlkampf 1984 analysiert. Vokabellisten spiegeln die soziale Ausgrenzung von Gruppen wider, die plötzlich als special interest group von der general public abgeschieden wurden – farmers, drug users, the elderly, sex workers. Doch das Anliegen, für die ideologische Aufladung der Sprache zu sensibilisieren, wirkt zwischen all den Durchgangsstationen der Ausstellung wie ein unfreiwilliger Aufenthalt.

Zu den Verlierern der Globalisierung gehören die Obdachlosen. Wer als Künstler auf sich hält, widmet ihnen ein Projekt. John Berger hat sie in seinem Roman „King“ besungen, Jochen Gerz arbeitet mit ihnen in Paris. Im Bethanien zeigte 1999 der japanische Fotograf Ryuji Miyamoto Aufnahmen der cardbox houses aus Tokyo. Die Schlafplätze der Obdachlosen berührten durch eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit an den Mangel und die ästhetische Ordnung des wenigen Besitzes. Miyamoto blieb Beobachter.

Doch das Modell des Künstler-Nomaden verführt nicht selten zu romantisierenden Identifikationen. Der Unterschied, ob man aus sozialer Hilflosigkeit in die Obdachlosigkeit gedrängt wird oder als Künstler das Privileg des Reisens genießt, verwischt. Das gibt manchen Projekten einen zynischen Beigeschmack wie Valeska Peschkes „Instant Home“. Auf einer Sackkarre liegt ihr samt Wohnzimmereinrichtung aufblasbares Haus, Fotos zeigen Stationen auf Parkplätzen, in Villenviertel und Wüstenlandschaften nahe Los Angeles. Einerseits ist das Instant Home eine Persiflage des chromblitzenden Wohnwagens, in dem der unentwegte Pionier den Komfort des Sesshaften mitzunehmen sucht. Andererseits bleibt es zu sehr Spielzeug, um es in der Erprobung in unterschiedlichen sozialen Kontexten auf Auseinandersetzungen ankommen zu lassen.

Zu den Künstlern, die über das Bethanien langfristig nach Berlin kamen, gehört Zhu Jinshi. Seine Fahrradskulpturen sind mit Stapeln von Reispapier beladen und zwischen hängenden Leinwandbahnen gefangen. Vor elf Jahren begann er, mit leerem Reispapier und unbemalter Leinwand die Unmöglichkeit zu thematisieren, Kunst der europäischen Tradition der Malerei und die chinesische der Kalligraphie voneinander zu trennen. Aus der Verweigerung entsteht bei ihm ein neuer Gebrauch des Materials, das Gattungs- und Kulturgrenzen zugleich überwindet. Solche Klarheit der Transformation ist die Ausnahme in der Ausstellung „durchreise“. Oft ist sie nur eine Bestandsaufnahme des Unterwegsseins. Zügegucken eben.

Bis 28. Mai, Mi.–So., 14–19 Uhr, Künstlerhaus Bethanien, Mariannenplatz 2, Kreuzberg

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