Ruhe in Unfrieden

Dunkler Ort, rosige Zeiten: Um Fresenhagen, den Bauernhof der deutschen Agitrockband Ton Steine Scherben, gab es nach dem Tod von Sänger Rio Reiser lange Streit. Nun erscheint ein Buch mit Innenansichten der legendären Musikgruppe, und Reste der Band veranstalten am Sonntag in Berlin eine Scherben-Nacht, „Unter Sternen“

von THOMAS WINKLER

Knapp drei Hektar Land im Friesischen. Zwei alte Bauernhäuser mit einer Wohnfläche von fünfhundert Quadratmetern, nach einigen Monaten Leerstand und mehreren Einbrüchen in einem bedenklichen Zustand. Ein Grab.

Fresenhagen ist nicht nur eine Immobilie in der Nähe des nordfriesischen Niebüll. Fresenhagen, das ist: die „Freie Republik Fresenhagen“, das ist: Ton Steine Scherben und ihr Ende. Das ist auch der gescheiterte Versuch eines selbst bestimmten Zusammenlebens – und das Vermächtnis von Rio Reiser. Nicht nur, weil er dort seit seinem Tod im August 1996 begraben liegt. Fresenhagen ist Gegenstand und Kristallisationspunkt eines Streits, der um dieses Vermächtnis in den letzten Monaten entbrannt ist.

Da fordert ein „Manne“ auf dem „Pinwand“ geheißenen Internetdiskussionsforum des Rio-Reiser-Archivs: „Bettet ihn um!“ Ein „achim“ droht „im namen der friesischen nachbarn und freunde Rio Reisers“ dessen Bruder Gert Möbius „mehr als nur einen satz heiße ohren und ein paar blaue augen“ an. Und R.P.S. Lanrue, ehemals Scherben-Gitarrist, Lebensgefährte und bis zuletzt Reisers Mitbewohner in Fresenhagen, sagt offiziell nichts, aber grummelt laut und unüberhörbar aus seinem selbstgewählten portugiesischen Exil.

Die Lokalzeitung titelt: „Rio Reisers Freie Republik unterm Hammer.“ Vier Jahre nach Reisers Tod wird vehement Vergangenheit bewältigt. Währendessen fällt die Musik der Scherben an erwarteten wie unerwarteten Stellen zurück in die Gegenwart: Am 9. Januar wäre Reiser fünfzig Jahre alt geworden, wenige Tage später nahmen alte Mitstreiter, die sich zu einer Revivalband zusammengetan haben, ihr Debütalbum auf. Und seit vorgestern gibt es nun eine Biografie der Band – Coautor ist Kai Kivondo, der als Kai Sichtermann der erste und letzte Bassist bei Ton Seine Scherben war (siehe den Teilnachdruck auf der nächsten Seite des taz.mag).

Anfang März wurden immerhin die Besitzverhältnisse von Fresenhagen geklärt. Nachdem zwischenzeitlich sogar schon eine Zwangsversteigerung angesetzt war, verkaufte Lanrue seine Hälfte des Anwesens an Ingrid Pilch, die Lebensgefährtin des Reiser-Bruders Gert Möbius. Die andere Hälfte war bereits in Besitz der Erben Gert und Peter Möbius. „Jetzt wird das Haus hoffentlich endlich so genutzt“, sagt Gert Möbius, „wie es mal geplant war.“

Als sich der Verein Rio-Reiser-Haus während eines Gedenkkonzertes kurz nach seinem Tod gründete, war geplant, Fresenhagen zur Begegnungs- und Gedenkstätte auszubauen. Zusätzlich sollten Talente gefördert, Veranstaltungen durchgeführt und das musikalische Erbe von Reiser archiviert und verwaltet werden. „Es gibt wenige linke Denkmodelle“, sagt Gert Möbius, „und noch weniger Orte, wo man darüber reden kann.“ Einer solchen Nutzung stehe nun nichts mehr im Wege, so Möbius. Demnächst soll erst einmal ein so genanntes „Rio-Reiser-Zimmer“ eingerichtet werden. Dazu werden die Devotionalien aus dem Besitz des teuren Verstorbenen zurück nach Fresenhagen geschafft. Aus Sicherheitsgründen hatte man sie nach Berlin ins Rio-Reiser-Archiv verbracht, weil im letzten Sommer des öfteren ins leer stehende Fresenhagen eingebrochen worden war. Möbius sagt, er wäre froh, einen Teil der Verantwortung wieder los zu werden. „Ständig klingelt das Telefon: Anwälte, Fans, Steuersachen, bis zu Gas und Strom.“

Das Archiv aufzubauen, damit hat Gert Möbius mittlerweile längst in Berlin in einer Dreizimmerwohnung in Steglitz begonnen. Einige Erinnerungsstücke an Reiser warten hübsch dekoriert in einer Vitrine auf ihre Rücküberführung. Der Rest staubt in Koffern auf den Bücherregalen vor sich hin. Ein Raum ist zum Digitalstudio ausgebaut, hier werden die Tonbänder aus der Hinterlassenschaft systematisiert, katalogisiert, digitalisiert und auf CD und DAT-Bänder überspielt. Der Musiker und Reiser-Vertraute Lutz Kerschowski hört und ordnet ungefähr tausend Stunden Aufnahmen von Reiser und den Scherben. Teile des geordneten Materials wurden bereits veröffentlicht. Die Brüder gaben dem verlegenden Label den Namen Möbius Rekords. Reiser selbst hasste seinen bürgerlichen Namen.

Weiteres Material, vor allem aus Scherben-Zeiten, ist im Besitz von Lanrue. Der allerdings wird es dem Archiv nicht zur Verfügung stellen. Seit dem Tod von Reiser liegt er im Streit mit den Möbius-Brüdern. Nach zwanzig Jahren, die Lanrue und Reiser gemeinsam in Fresenhagen lebten, in einer Band spielten und das Scherben-Label David Volksmund betrieben, war ein unübersichtliches Geflecht gegenseitiger Verpflichtungen, Ansprüche und vor allem Schulden entstanden. Der Konflikt zwischen den Brüdern und Lanrue eskalierte nach Reisers Tod schnell. 1998 schließlich verließ der Scherben-Gitarrist Fresenhagen gen Portugal. Dort lebt er heute von den Verkaufserlösen der alten Scherben-Platten.

Geld mag der Anlass des Zerwürfnisses gewesen sein, so wie auch schon eine halbe Million Mark Schulden 1985 zum Ende der Scherben beitrug. Mittlerweile aber hat sich der Konflikt zu einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Erbe ausgeweitet. Lanrues Meinung: Was damals nicht veröffentlicht wurde, darf auch heute nicht veröffentlicht werden.

„Alle finden okay, was wir machen“, glaubt Möbius. „Alle, außer Lanrue.“ Und tatsächlich scheint die Musik von Ton Steine Scherben wieder auf fruchtbaren Boden zu fallen. Bei den Auftritten der Revivalband Neues Glas aus alten Scherben finden sich überraschend viele junge Gesichter im Publikum, im Internet diskutieren neue mit alten Fans über die aktuelle Bedeutung der Scherben. Die Veröffentlichungen des Reiser-Archivs werden dabei fast durchgehend begrüßt. Eins immerhin haben Befürworter und Kritiker gemein: Beide wollen sich ihr lieb gewonnenes Bild vom Übermenschen Reiser bewahren.

So kamen mit den ersten Veröffentlichungen aus dem Nachlass auch die zu erwartenden Ausverkaufsvorwürfe. Dabei bewegen sich die Verkaufszahlen bislang nicht einmal im fünfstelligen Bereich. Eher habe man, so Gert Möbius, bisher draufgezahlt. Da ist das Computersystem (hunderttausend Mark), da ist der Rechtsstreit mit dem Karl-May-Verlag (bisher dreißigtausend Mark). Statt sich über den kostenlosen Synergieeffekt zu freuen, hatte der Verlag Möbius Rekords verklagt, weil CD-Cover ähnlich gestaltet worden waren wie die Buchumschläge aus Radebeul. Und nicht zuletzt hatte der Karl-May-Verehrer Reiser seinen Erben Schulden hinterlassen (etwa achthunderttausend Mark). Trotzdem: Die Finanzierung des Archivs „darf nicht Antriebsfeder für Veröffentlichungen“ werden. Ein Vorwurf, der vor allem aus Portugal kommt.

Lanrues Groll stammt womöglich auch noch aus der Zeit vor dem Tod Reisers. Aus seinem Umfeld wird angedeutet, Lanrue könne allerlei Unschmeichelhaftes über den posthum mystifizierten Reiser erzählen. Konkret: Rio habe Lanrue zum Hausmeister von Fresenhagen degradiert. „Rio war wirklich ein Despot“, erzählt Kai Kivondo. „Jeder, der ihn gekannt hat, wird das zugeben. Sein Verhältnis zur Realität, gerade was Geld anging, war – vorsichtig formuliert – sehr eigenartig.“

Auch Kivondos Buchprojekt hat sich Lanrue verweigert und sich im Gegensatz zu allen anderen Beteiligten nicht interviewen lassen. Dass Lanrue die unveröffentlichten Scherben-Aufnahmen nicht herausgeben will, bedauert Kivondo, denn die alten Bänder müssten dringend neu gespeichert, am besten digitalisiert werden, um nicht für immer verloren zu gehen.

Mit „Unruhe“ rechnet Kivondo nach dem Erscheinen seines Buches, für das er sich wochenlang in Fresenhagen „durch alte Ordner geforstet“ hat. „Ehrlich“ ist es geworden, sagt er, „so weit es geht“, denn „was mir tierisch auf den Geist geht: Rio wird überall als der große Heilige dargestellt, aber das war er wirklich nicht“. Dennoch: „Ich bereue nichts, eine bessere Lebensschule als fünfzehn Jahre Scherben gibt es nicht.“ Weitere Schriftwerke hat man von Kivondo nicht zu erwarten, darauf legt er Wert.

Während der ehemalige Bassist nach einem endgültigen Abschluss sucht, kann der Rest der Rhythmusgruppe nicht von der ruhmreichen Vergangenheit lassen. Klaus „Funky“ Götzner, der elf seiner 48 Jahre als Scherben-Schlagzeuger verbrachte, hat eine Band zusammengestellt, die die Hits der Scherben und von Reiser, aber auch eher unbekannte Songs auf die Bühne bringt. Zur Besetzung gehören Dirk Schlömer, Gitarrist der letzten Scherben-Tourneen, Jochen Hansen (Bass) und Jörg Mischke (Keyboards) aus der Rio-Reiser-Begleitband. „Rio hat ein Lebensgefühl auf den Punkt gebracht“, sagt Götzner, „und wir haben ein Bedürfnis, das mitzuteilen.“ Das Hauptproblem, den Gesangspart von Reiser zu übernehmen, muss Michael Kiessling bewältigen, der sonst mit dem Bühnenprojekt „Bukowski waits for us“ durch Berlin tingelt.

Im selbst verwalteten, linken Wohn- und Arbeitsprojekt UFA-Fabrik in Berlin-Tempelhof, wo früher auch die Scherben auftraten, gaben Neues Glas aus alten Scherben zwei Konzerte, bei denen ihre Debütplatte mitgeschnitten wurde. Im Vorraum: Fotos von Soliaktionen in der Dritten Welt. Palästinensertücher waren im Publikum kaum zu entdecken, immerhin wurde bei den einschlägigen Textzeilen die eine oder andere Faust gereckt. Trotzdem: An historischer Stätte versammelten sich nicht nur die erwarteten Genossen aus alten Zeiten, sondern erstaunlich viel jüngeres Publikum, das den Botschaften anscheinend problemlos eine neue Aktualität abzugewinnen in der Lage ist.

In der aktuellen, von Techno geprägten Jugend, ist Götzner überzeugt, gibt es ein Potenzial, „das Sehnsucht hat nach einer anderen Musik“. Dieses Potenzial gilt es zu mobilisieren. Leichenfledderei, so Götzner, hat ihm in diesem Zusammenhang noch niemand vorgeworfen. Kivondo allerdings, den Götzner auch angesprochen hatte, blieb lieber außen vor. Er selber macht Musik nur noch als Hobby und spielt mit Freunden „alte Rocksachen aus den Sechzigern und Siebzigern“ nach.

Götzner dagegen ist von der Daseinsberechtigung seiner Revivalband überzeugt. Vor allem in den neuen Bundesländern sieht er Aufklärungsbedarf: „Dort gibt es jetzt dieselben Probleme wie bei uns vor dreißig Jahren: Arbeitslosigkeit, den Leuten geht es dreckig.“ Die Publikumsreaktionen geben ihm Recht: Negative Äußerungen sucht man im Netz vergeblich, bei den Auftritten nimmt das Publikum den Schweinerock der alten Recken wohlwollend zur Kenntnis. „Die Leute kommen mit einer kritischen Haltung ins Konzert“, glaubt Götzner, „aber nach dem dritten Stück sind sie begeistert.“

Götzner ist auch nach all den Jahren noch glühender Verehrer von Rio Reiser. Die Unstimmigkeiten im Reiser-Haus-Verein quittiert er mit dem Boykott der Treffen. Ihm wäre es am liebsten, das Andenken an Reiser bliebe unbeschädigt. „Man muss nicht alles ausbreiten“, sagt er, ohne damit allerdings ausdrücklich das Buchprojekt Kivondos zu meinen. Die totale Verweigerungshaltung seines ehemaligen Bandkollegen Lanrue allerdings findet er „ein wenig päpstlich“.

Seine elf Jahre in Fresenhagen, so Götzer, „waren für mich immer rosige Zeiten“. Kivondo dagegen hat mit der Symbolkraft von Fresenhagen seit jeher seine Probleme. „Ein dunkler Ort“, sagt der Bassist rückblickend, „es gab ständig Konflikte, und ehrlicherweise muss man zugeben, dass die Freie Republik Fresenhagen gescheitert ist.“

Die ehemaligen Bewohner wollen aus den unterschiedlichsten Gründen nichts mehr mit dem Bauernhof im Friesischen zu tun haben. Der Rest ist immer noch fasziniert: Dieser Tage reisen Interessierte aus der ganzen Republik nach Berlin, um im Gedenken an Rio Reiser zu feiern und die Zukunft von Fresenhagen zu diskutieren. Wie immer der teure Tote auch wirklich gewesen ist, welches Bild man auch von ihm hat, seine Musik bewegt die Menschen noch heute.

Und irgendwann sind die knapp drei Hektar Land vielleicht auch für Gert Möbius nicht mehr vor allem ein Verwaltungsproblem mit einem Grab. „Fresenhagen“, sagt Möbius, „war für mich immer ein Symbol, ein magischer Ort.“

THOMAS WINKLER, 35, lebt in Oranienburg und schreibt seit mehr als zehn Jahren für die taz. Er findet „Der Traum ist aus“ immer noch ein klasse Lied