Überläufer zur Untermiete

Eine Agentengeschichte von Wladimir Kaminer

Alex, den Spion, habe ich auf dem Kollwitzplatz kennengelernt. Er saß auf einer Bank, Sonnenbrille, offenes, freundliches Gesicht, und hatte eine russische Zeitung in der Hand. Ich setzte mich daneben, um eine Zigarette zu rauchen. Alex holte ebenfalls eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und bat mich um Feuer. Er erkannte in mir den Landsmann, und dadurch kamen wir schnell ins Gespräch. Er sei ein Spion, der die Fronten gewechselt habe und nun für die CIA schufte, erzählte er mir.

Das war im Sommer 1993, ich hatte gerade eine neue Wohnung in der Schönhauser Allee bezogen und war den ganzen Tag mit der Reparatur einer aus allen Ecken stinkenden Duschkabine beschäftigt. Es war heiß und draußen lärmten die Kinder. Die Pumpe und der Heizer funktionierten perfekt. Aber das Wasser aus der Dusche roch so stark, als ob jemand in den Boiler reingeschissen hätte. Das schien zwar technisch unmöglich zu sein, aber die wahre Kunst kennt keine Grenzen. Meinen Vormieter stellte ich mir als einen großen Künstler vor. Die ganze Gegend war von Künstlern bewohnt. Ich nahm die Duschkabine völlig auseinander, konnte aber die Ursache für den entsetzlichen Geruch trotzdem nicht beseitigen.

So ging ich immer mal wieder rüber zum Kollwitzplatz, um frische Luft zu schnappen. Als Alex mir erzählte, dass er ein ehemaliger russischer Agent sei, ein Überläufer, habe ich mich keine Sekunde darüber gewundert. Erst einmal war der Kollwitzplatz immer schon ein Ort, der alle möglichen Spinner anzog. Einmal drohte mir einer, dass er gleich einen Selbstmord begehen würde, wenn ich ihm nicht sofort 10 Mark gäbe.

Ein anderer wollte alle auf dem Platz mit seinen selbstgebackenen Keksen ernähren, die schwer verdächtig nach Gift aussahen. Einmal erschien dieser Ein-Mann-Sekten-Anhänger mit einer Flasche voller rot-brauner Flüssigkeit in der Hand und zwang die Kinder auf dem Spielplatz, aus der Flasche zu trinken. Die Eltern hatten entweder nichts gemerkt oder schon früher selbst aus der Flasche getrunken. Vielleicht hatten sie auch genau solche Flaschen in ihren Hosentaschen . . . ein merkwürdiges Publikum. Alex wiederum erzählte mir nun auf dem Kollwitzplatz, dass sein richtiger voller Name Alexander Ikonew lautete. Er war der Sohn des berühmten Generals, der lange Zeit die Abteilung der Luftabwehrspionage geleitet hatte und vor ein paar Jahren in Rente gegangen war. Alex war ein Codierer – eigentlich ein ganz normaler Computerspezialist, der für die technische Abteilung der russischen Luftspionage arbeitete.

Eines Tages war er heimlich nach Deutschland gefahren, um hier die CIA aufzusuchen und sich zu verkaufen. Alex wollte, dass seine Familie – er hatte eine Frau und ein Kind – die Green Card bekämen und nach Amerika verfrachtet würden. Dort wollte er bei einer Computerfirma in Kalifornien angestellt werden. Dafür bot Alex der CIA alle Programme an, mit denen die russischen Geheimcodes geschrieben wurden.

Als wir uns kennenlernten, hatte Alex nicht viel zu tun. Er wohnte in einem Hotel und wartete auf den Mann aus dem Stabsquartier der CIA, einen Psychologen, der eine Art face control bei Alex durchführen sollte. Die Amerikaner wollten erst mal feststellen, ob er es ehrlich meinte und nicht von den Russen lanciert war. Alex verfiel der Langweile und sehnte sich nach russischer Gesellschaft. Er bekam von den Amerikanern zweitausend Mark im Monat für seine Unterkunft.

Als er erfuhr, dass ich alleine in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebte, erkundigte er sich, ob ich ihm ein Zimmer für Tausend Mark untervermieten würde. Ich hatte nichts dagegen; als Wohnungsmiete zahlte ich damals nur insgesamt 200 DM an die Wohnungsbaugesellschaft. Die amerikanischen Arbeitgeber von Alex hatten dann auch nichts dagegen und so zog er bei mir ein – mit drei Laptops. Die Amerikaner hatten ihm außerdem einen BMW zur Verfügung gestellt und gaben ihm ein dickes Taschengeld. Aber er führte ein bescheidenes Leben – gegen Frauen und Alkohol war er völlig immun.

Das komische an Alex war: Er sah aus wie ein echter CIA-Mann aus dem Film. Deswegen lachten alle meine Freunde jedes Mal, wenn ich ihnen meinen neuen Mitbewohner als Spion vorstellte. Der Name „Spion“ setzte sich schnell als sein Spitzname durch.

Bald erfuhr Alex, dass der Mann aus Washington eingetroffen sei. In der Nacht vor seiner „Prüfung“ konnte er nicht schlafen. Ich schaute in sein Zimmer rein. Alex saß vor einem großen Spiegel und führte ein intensives Gespräch mit einem unsichtbaren Partner. „Ich muss meine Gesichtsmuskeln trainieren“, erklärte er mir. Ich wünschte ihm viel Glück und störte nicht weiter. Am nächsten Tag, bei der Vorstellung, lief alles glatt.

Die CIA nahm Alex endgültig unter ihre Fittiche. Abends feierten wir das. Ich erlaubte mir einen Toast: „Spione aller Länder, vereinigt euch“ rief ich. Alex lächelte milde. Ein Monat später wurde in den USA ein gewisser Lenz enttarnt – ein hohes Tier im Verwaltungsapparat der CIA. Der Mann war jahrelang ein russischer Agent gewesen. Zu Hause bei Lenz fanden die Beamte eine Diskette mit Alex' Namen drauf. Sie wussten jedoch nicht, ob der Agent die Informationen auf dieser Diskette schon nach Moskau verfrachtet hatte. Sie konnten deswegen einen Racheakt nicht ausschließen. Über Nacht wurde Alex samt seiner Laptops aus meiner Wohnung nach München evakuiert, in eine geschlossene Ami-Siedlung, wo bereits seine Frau und sein Kind auf ihn warteten. Ich verlor einen tollen Untermieter.

Später besuchte ich ihn in München und lernte seine Familie kennen. Alex wohnte in einem richtigen Haus mit Garten. Wir saßen auf der Veranda und tranken Bier. Im Garten liefen echte Igel herum. Alex machte sich Sorgen wegen seines Vaters, dem General, sonst ging es ihm gut. Zwei Monate später flogen sie nach Kalifornien. Einmal bekam ich eine E-Mail von ihm – darin erzählte er mir, dass mit dem Geheimdienst Schluss sei und er jetzt bei Microsoft arbeite.