MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN:
VON ELKE SCHMITTER
Lieben
David Baddiel: „Was man so Liebe nennt“. Aus dem Englischen wunderbar übersetzt von Helga Herborth. Verlag Antje Kunstmann, München 2000, 336 Seiten, 39,80 DM
Alte Geschichte, immer neu. Als begonnener oder gar geschlossener Paar-Reigen beliebt, seit es die Ehe gibt. Von Goethe bis Pinter, von Laclos bis Laing: Vic liebt Emma, die Frau von Joe. Joe liebt Emma, Emma liebt Vic. Vic hat eine Freundin, die Joe liebt, aber das eher aus Versehen. So hat der Brite David Baddiel eine Neuauflage geschrieben, in den allermodernsten Zeiten: denn Emma verfällt Vic nur, weil sie so trostbedürftig ist bei Lady Di’s Tod. Im Gegensatz zu Joe, denkt Emma, weint auch Vic um Lady Di, versteht sie also. Dabei hat der Musiker Vic nur Heuschnupfen – und fürchtet, dass Emma den Schwindel entdeckt, wenn der jüngste Anfall vorbei ist. Doch es rettet ihn erst mal der Blumenteppich, den die trauernde Bevölkerung in der Innenstadt ausbreitet; seine Schleimhäute werden weiter gepeinigt, und er hat unendlich viel Zeit: Denn nur Pianisten mit ganz weichem Anschlag sind in England gerade gefragt.
Aus der Affäre wird Liebe. (Sonst wäre es eine andere alte Geschichte.) Baddiel geht durch die großen Themen: Männerfreundschaft und Liebesverrat, Glück und Geheimnis, Sex und Tod. Doch er geht die großen Themen nicht durch – dazu ist er nicht routiniert genug. Wie der Filmemacher Almodóvar hat Baddiel ein bemerkenswertes Vermögen, sein Publikum – natürlich immer Einzelne, im Angesicht des Todes und der Liebe – durch Emotionen zu treiben, noch eine Drehung weiter, von der Hoffnung zur Enttäuschung, von der Identifikation zur Ironie und noch einmal von vorn, zum traurigen Glück. Als Manierist ist er hoch begabt. Im angenehmsten Sinne eher nebenbei ist sein (zweiter) Roman auch eine satirische Betrachtung des Lebens in den englischen Neunzigern – die Aids-Forschung, die Alzheimersche Krankheit, Immobilienspekulation, Latzhosen und Designermöbel tauchen auf und verschwinden wieder, hochgespült und überschwemmt von den Gedanken und Gefühlen, die zu der einen Geschichte gehören, die so alt ist, dass sie immer neu erzählt werden muss: Vic liebt Emma, die Frau von Joe. Joe liebt Emma, Emma liebt Vic...
Erzählen
Georges Simenon: „Das Testament Donadieu“. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé; für die Neuausgabe überarbeitet. Diogenes Verlag, Zürich 2000, 544 Seiten, 26,90 DM
Zerfall: Fast nichts macht Schriftstellern so viel Spaß. Wofür Thomas Mann allerdings noch vier Generationen brauchte bei seinen Buddenbrooks, erledigt Georges Simenon in einer: ebenso gründlich, und er nimmt sich für seine Gewohnheit beträchtlich viel Platz. Auf geradezu sensationell üppigen 544 Seiten erleben wir den Zusammenbruch einer Familie aus den ersten Kreisen in der französischen Provinz – und wie eigentlich immer bei Simenon in einer Art präziser Vagheit: Die äußersten Umstände, die Epoche wird nur angedeutet; Geschichte und Politik als Orientierungsmöglichkeit spielen keine Rolle. Seine Tragödien sind zeitlos, weil ihn allein die selbst geschaffenen Extremsituationen des Europäers interessieren: Liebe, Verlangen, Gewinnsucht, Ehrgeiz.
Seine nun schon seit über 60 Jahren anhaltende Popularität wird mit dieser präzisen Vagheit zusammenhängen – seine Romane altern nicht, weil die Motive seines Personals mit unseren identisch sind, und das jeweilige Ambiente ist weitgehend der Vorstellungskraft des Lesers überlassen. Fantasievolle Naturen machen sich ein genaues Bild der Innenräume, der Frisuren und der Landschaften; eher eilige oder analytisch interessierte Leser sind schon zufrieden, wenn es heißt: „Ein großes, modernes Wohnhaus.“ Manchmal regnet es auch. Viele Rätsel bleiben, auch wenn eine Geschichte, wie diese, mit einem fast abgeräumten Tablett von Möglichkeiten endet.
Eine mir nur bei ihm bekannte Technik ist das diskrete, unaufwendige Flanieren durch die Perspektiven: Hat er uns eben noch mitgeteilt, was im Kopf einer Person vorging, heißt es nur wenige Zeilen später: „Dachte sie noch daran, als sie hinausgingen? Der blaue Wagen stand vor dem Kirchplatz, und die Menge der Gläubigen musste um ihn herumgehen.“ Und Schluss: Der allwissende Erzähler übernimmt wieder die Regie, während wir noch gerade eben angehalten waren zu grübeln: Dachte sie noch daran? So schreibt man immer einen gewissen Teil der Geschichte selbst – wie viel, ist der eigenen Lust überlassen.
Auch daher rührt, dass man die besten Romane von Simenon mehrmals liest – die Stimmung, die er mit seinen Skizzen erzeugt, wirkt intensiver als die mit viel Detailaufwand evozierte von Kollegen, die an die Stumpfheit des Lesers glauben, der mit Auspinselei beeindruckt werden muss. Sein Welterfolg als Non-Maigret-Autor macht Humanisten glücklich, weil er beweist, dass auch das Nichttriviale, wenn es von raffinierter Schlichtheit ist, ein riesiges Publikum erreichen kann. Zu Simenons neuerlichem Erfolg in deutscher Sprache gehört allerdings untrennbar und im wahrsten Sinne fundamental die Überarbeitung aller Übertragungen, die derzeit in Folge erscheinen: Ein so elegantes Deutsch ist selten geworden – nicht nur bei Übersetzungen.
Staunen
Karl Philipp Moritz: „Neues ABC-Buch“. Mit Illustrationen von Wolf Erlbruch. Verlag Antje Kunstmann, München 2000. Mit einem instruktiven Nachwort von Heide Hollmer. 64 Seiten, 24,80 DM
„Anton erinnerte sich noch sehr genau, wie er im siebten oder achten Jahre oft sehr aufmerksam zuhörte, wann sein Vater sprach, und sich wunderte, daß er von allen den Wörtern, die sich auf heit, und keit, und ung endigten, keine Silbe verstand, da er doch sonst, was gesprochen wurde, verstehen konnte.“ – So steht es im „Anton Reiser“, der ersten Autobiografie des modernen Menschen, unseres ersten Zeitgenossen. Sie ist von Karl Philipp Moritz; begabtes, unglückliches, armes Kind sich hassender Eltern, zugleich vernachlässigt und schulmeisterlich erzogen, Opfer des weltfremden, rigiden Pietismus seines Vaters und der Verwahrlosung seiner Mutter.
Der Schüler Moritz besaß schon „eine vollständige Dogmatik mit allen Beweisstellen aus der Bibel, und einer vollständigen Polemik gegen Heiden, Türken, Juden, Griechen, Papisten und Reformierte.“ Der erwachsene Moritz, Pädagoge und Philologe, Freimaurer und Dichter, schrieb eine Kinderlogik allein aus dem Geist der „großen Wissenschaft des Einteilens und Ordnens, des Vergleichens und Unterscheidens“. Er kam aus einer Erziehungswelt, in welcher Ordnung nicht das halbe Leben war, sondern dessen ganzer Ersatz. Aus deutschen Landen, in denen die Verhältnisse ganz ungleich waren. Ordnung in der Seele, Tabellen in der Sprache, System in den Gedanken. Schutz vor dem Chaos in- und außerwärts, im Kopf, im Körper, im Kleinstaat.
Dass er ein ganzer Mensch geworden ist, verdankt er – neben den notwendigen Zufällen, der Neigung mancher, der Kameradschaft und der Liebe, den Ausläufern der idealischen Goethezeit – seiner Empfindungsfähigkeit und seinem Kopf. Mit „Anton Reiser“ schrieb er sich seine Herkunft von der Seele, dann war er frei für die Gegenwart und eine kurze Karriere (er starb mit 37 Jahren, 1793 in Berlin, als Professor und Mitglied der Akademie der Künste & der Wissenschaften, eine deutsche Berühmtheit). Nie Vater geworden, galt der Erziehung seine lebenslange Aufmerksamkeit: Vergessen hatte er nichts. So schrieb er, neben der „Kinderlogik“, auch ein ABC für die Kleinen, in dem er sich allerdings nicht ganz an seine Erfahrungen hielt: In einer Spirale von den anschaulichsten Dingen zu den Abstrakta, vom Auge und dem Fühlen zu Genügsamkeit und Tod, führt er sein Publikum durchaus auch zu den Heits und Ungs. Aber er machte es klug, wobei die Bildtafeln halfen.
Der Text ist historisch, die Bilder sind neu: Wolf Erlbruch hat die Texte von Karl Philipp Moritz so illustriert, wie man es kongenial nennen kann – fantasievoll und eigenständig, präzise im Detail und weit in der Auffassung, oft in einer Collagetechnik, die Unterschiedliches verbindet: poetische Erzählung und skizzenhafte Zeichnung, das Lehrhafte eines Anatomiebuchs, das Fabelhafte eines Märchens, die Nüchternheit einer Fibel. Wer will, kann in diesem ABC die deutsche Aufklärung in ihren klarsten und schönsten Worten lesen – als eine kleine Anthropologie, nebst Grundlagen der Sozialkritik und des fühlenden Denkens. Und für die Kinder taugt es auch.
Erinnern
Käthe Vordtriede: „Es gibt Zeiten, in denen man welkt“. Libelle Verlag, Bottighofen 1999, 278 Seiten, 39 DM
Käthe Vordtriede ist nicht mehr ganz unbekannt. Dem Libelle Verlag ist die Herausgabe der Briefe zu danken, welche die Sozialdemokratin, aus in nahezu jeder Hinsicht äußerst bedrängten Verhältnissen, an ihren Sohn Werner geschrieben hat: erst aus Freiburg im Breisgau, dann aus dem schweizerischen Frauenfeld und schließlich aus dem endgültigen Exil, in New York („Mir ist es noch wie ein Traum, dass mir diese abenteuerliche Flucht gelang“, 1998).
Nun ist auch ein autobiografischer Bericht im selben Verlag erschienen, der sich ebenso dramatischen wie typischen Umständen verdankt: Ein Preisausschreiben in Verbindung mit der amerikanischen Zeitschrift Atlantic Monthly rief Flüchtlinge im Jahr 1940 auf, ihre Erlebnisse und Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland zu berichten, möglichst ausführlich, möglichst genau: „Bitte beschreiben Sie wirkliche Vorkommnisse, die Worte und Taten der Menschen, soweit erinnerlich. Die Preisrichter haben kein Interesse an philosophischen Erwägungen über die Vergangenheit, sondern vor allem an einem Bericht persönlicher Erlebnisse.“ – Geschichte von unten, und eine gute Idee zum Beispiel für die sozialdemokratisch-grüne Bundesrepublik, die sich so oft so schwer tut, bürgerkriegsähnliche Zustände von Bürgerkriegen, rassistische Verfolgung von hinnehmbaren Schikanen, politische Unterdrückung von Diktatur, Diskriminierung von sexueller Gewalt zu tren- nen ... Der Gewinner bekam 1.000 Dollar; Käthe Vordtriede war es nicht. Als Dokument ist ihr Bericht dennoch lesenswert; lebendig und detailliert.
Eine Schriftstellerin ist an der Journalistin Vordtriede nicht verloren gegangen, doch die unsentimentale, bis zur Trockenheit nüchterne, zugleich von politischem Ethos getragene Darstellung ihrer Jahre 33 bis 39 ist eindrucksvoll. Einen ihr mehr als verzeihlichen, aber geistesgeschichtlich nicht unbedeutenden Fehler wie ein falsches Zitat aus der Rektoratsrede Heideggers hätte der Verlag, der für eine aufmerksame Kommentierung sorgte, allerdings korrigieren müssen.
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