Die folgenlose Niederlage

Amerika im Jahr 25 nach der Flucht aus Vietnam. Die Nation lebt längst nicht mehr im Schatten des verlorenen Krieges. Lehren hat die Politik aus dieser Niederlage ohnehin nicht gezogen
von PETER TAUTFEST

Greg McGregor ist Vietnamveteran. Während der Tet-Offensive 1968 wurde er bei Hué von einem Granatsplitter getroffen. Zu Hause in Missouri gebar in jener Nacht seine Frau einen Sohn. David ist heute 32 Jahre alt. Seit 25 Jahren nun – seit dem Ende des Vietnamkriegs am 30. April 1975 – tingeln Vater und Sohn mit einer kleinen selbst gefertigten Vietnamausstellung durch die Lande – die Ehe der McGregors ist wie die vieler Vietnamveteranen längst geschieden. Greg und David stellen Reliquien des Krieges in einem Zelt aus, das sie auf Jahrmärkten und Volksfesten, bei patriotischen Gedenktagen und wahrscheinlich auch an diesem Wochenende wieder am Vietnam-Memorial in Washington aufstellen. Zu sehen sind Waffen und Uniformen des Vietcong, die primitiven Bambusfallen, wie sie die Guerilla verwendeten, Ausrüstungen der amerikanischen, nord- und südvietnamesischen Armeen, dazu Fotos, Lageskizzen, Landkarten.

„In einer Welt, die schnell vergisst, ist es meine Aufgabe, die Erinnerung wachzuhalten“, sagt Vater McGregor. David steht in Tarnkleidung dabei und nickt. Er hat keine Berufsausbildung und geht wie sein Vater keiner Arbeit nach, er hat keine Freundin und kaum Freunde. Die McGregors leben von Spenden und nur für das Projekt ihres wandernden Vietnammuseums.

Bis heute wirft der Vietnamkrieg seinen Schatten auf so manches Einzelschicksal. „Ich habe geglaubt, die Schatten des Vietnamkriegs würden viel länger sein“, sagt der heute weißhaarige David Halberstam, ehemals Reporter der New York Times, der Anfang der 60er-Jahre die ersten vernichtenden Reportagen über die Anfänge des Vietnamkriegs schrieb und der für sein Buch „The Best and the Brightest“ über die Ursprünge des Vietnamkriegs den Pulitzerpreis bekam. Die Isolierung und Einsamkeit vieler Veteranen aber, ja die tragische Obsession, mit der Vater und Sohn McGregor die Erinnerungen an diesen verlorenen Krieg festhalten, ist die Kehrseite einer Entwicklung, die in Amerika über den Krieg und seine Opfer hinweggegangen ist. „Der Vietnamkrieg war eigentlich keine Schlacht des Kalten Kriegs“, sagt Halberstam, „sondern eine des Amerikanischen Bürgerkriegs.“ Anders aber als beim Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 ist Amerika über den Vietnamkrieg hinweggegangen. Die Nation lebt heute nicht in seinem Schatten.

In den USA wird an diesem Wochenende dennoch der schmerzlichen und blamablen Niederlage gedacht, die ein kleines Land und eine Bauernarmee der hochgerüsteten Supermacht USA vor genau 25 Jahren beibrachte. Doch am Montag schon wird die Nation zu einer Tagesordnung übergehen, in der der Vietnamkrieg keinerlei Bedeutung hat. „Wir haben den Krieg verloren, aber den Frieden gewonnen“, sagt Richard Haas, Fachmann für Außen- und Sicherheitspolitik am Brookings Institut und ehemals außenpolitischer Berater von George Bush: „Asien steht im Zentrum der wirtschaftlichen Dynamik des 21 Jahrhunderts. Die USA tragen zu dieser Entwicklung bei und profitieren gleichzeitig von ihr.“ Der Vietnamkrieg hat ein kleines asiatisches Land verwüstet, und seine Folgen zeichnen nachkommende Generationen von Vietnamesen. In Amerika aber hat er nur jene gezeichnet, die an ihm beteiligt waren – dass er eine Familie wie die McGregors bereits im zweiten Glied verfolgt, ist eher eine tragische Kuriosität, die nur unterstreicht, wie unberührt der Rest der Gesellschaft von Krieg und Niederlage ist.

Als Lyndon B. Johnson 1965 die Verlegung von 100.000 amerikanischen Soldaten nach Vietnam ankündigte, war in den USA die Arbeitslosigkeit auf 4,9 Prozent gesunken. Johnson war der erfolgreichste Präsident seit Roosevelt, wenn nicht der erfolgreichste dieses Jahrhunderts überhaupt. Er hat das Bürgerrechtsgesetz durchgesetzt und erstmals eine Krankenversicherung geschaffen. Und im Apollo-Programm griff Amerika damals nach den Sternen. Das Land stand auf dem Gipfelpunkt seiner Macht, und die Generation, die den Vietnamkrieg begann und ausfocht, hielt alles für möglich – die Beseitigung des Hungers, die Abschaffung der Armut, den Sieg über Elend und Unterdrückung. Kaum jemand konnte das eindrucksvoller formulieren als Lyndon B. Johnson.

Heute 35 Jahre später sind die USA nach dem Ende des Kalten Kriegs als einzige Supermacht übrig geblieben. Die Arbeitslosigkeit beträgt heute 4,1 Prozent, die Generation, die Amerikas Wirtschaftsboom antreibt, hält wieder alles für möglich: die Schaffung von grenzenlosem Reichtum und die Beteiligung der ganzen Welt an den Früchten einer entfesselten Weltwirtschaft. Die Akzente freilich sind verschoben. Was in den 60er-Jahren Sozialstaat und kollektive Anstrengung einer solidarischen Gesellschaft – Johnsons „Great Society“ – leisten sollten, wird heute eher der Privatinitiative und individueller Kreativität zugetraut. Dieser Perspektivwandel aber ist nicht dem Vietnamkrieg geschuldet. Das Ende von Liberalismus und Sozialstaat in den USA – oft dem Vietnamkrieg angelastet – geht eher auf Johnsons Bürgerrechtsgesetz zurück, von dessen Verabschiedung er selbst sagte: „Ich habe damit auf absehbare Zeit den Süden den Republikanern ausgehändigt.“ Heute ist in der Tat Amerikas Kongress von südlichen Republikanern beherrscht. Den Sozialstaat aber hat Bill Clinton – wenn auch in bescheidenerem Ausmaß als Johnson – wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Eine der wichtigsten Lehren des Vietnamkriegs sollte für Amerikas Außen- und Sicherheitspolitik die Ablehnung schrittweisen Engagements ohne klares Ziel und ohne klaren Bezug zur nationalen Sicherheit Amerikas sein. Und nie wieder wollten Politiker und Militärs der Verführung ihrer Luftüberlegenheit erliegen. Wenn das denn die Lehren des Vietnamkriegs sein sollten, dann sind die USA heute dabei, sie gründlich zu missachten. Amerikanisches Eingreifen in Grenada, Libanon, Panama, Somalia, Nicaragua, Haiti, Bosnien und Kosovo geschah jeweils schrittweise und ohne Formulierung klarer Ziele. In keinem Fall gab oder gibt es einen direkten Zusammenhang zur nationalen Sicherheit der USA – der Golfkrieg war eine Ausnahme. „Es sind Luxuskriege, wie sie eine Supermacht sich leisten kann“, sagt Richard Haas.

Und im Kosovo beschränkten sich die USA auf einen Krieg aus der Luft, einen Krieg, den sie aus der Luft auch gewannen. „Amerikas Luftstreitmacht hat sich derart weiterentwickelt und ist heute der von vor 30 Jahren derart überlegen, dass die Lehren des Vietnamkriegs nicht mehr gelten“, sagt selbst David Halberstam dazu.

Nach einer Untersuchung an der University of California in Riverside geht die Zahl der Seminare über den Vietnamkrieg an Amerikas Colleges und Universitäten seit Jahren zurück. Die Los Angeles Times sieht die Gründe darin, dass Ursprung und Auswirkungen des Krieges zu komplex und kontrovers sind. Der eigentliche Grund dürfte eher Desinteresse an einer Geschichtsepoche sein, die an der Nation zwar nicht spurlos, aber doch folgenlos vorbeigegangen ist.

Hinweise:Der Vietnamkrieg war eine Schlacht des Amerikanischen BürgerkriegesAsien steht heute im Zentrum der wirtschaftlichen Dynamik