Ytong-Stein in Legoland

Der Mut zur Barrikade: Die Skulpturen der amerikanischen Bildhauerin Jessica Stockholders sind chaotische Bauwerke, die Raum zerklüften. Zu sehen im Kunstmuseum St. Gallen
von GABRIELE HOFFMANN

Jessica Stockholder baut, wie Kinder bauen, wenn man sie gewähren lässt. Das heißt, nicht nur jedes Material, auch jeder Gegenstand kann zum Baumaterial werden. In einer Ausstellung des Kunstvereins St. Gallen hat die jüngste Arbeit der in New Haven, USA, lebenden Installationskünstlerin den Titel „Vortex in the Play of Theatre with Real Passion“.

Die Aneinanderreihung von Wörtern mit assoziationsträchtigem Horizont ist zwar unbrauchbar als Erklärung der Arbeit; sie steht aber in schöner Übereinstimmung mit dem, was man sieht. Wären nicht auch Zeichnungen ausgestellt, die eindeutig belegen, dass den Installationen von Jessica Stockholder Skizzen mit Maß- und Farbangaben vorausgehen, man würde erwarten, sie lege lediglich den Ausgangspunkt innerhalb des vorgegebenen Raums durch einen „Grundstein“ fest. Alles Weitere wäre dann ein intuitives Anbauen, Weiterbauen, Umbauen und Verdichten.

Weil man das Resultat unmöglich mit einem Blick erfassen kann, wird das Sehen beim Herumgehen zu einer Art Nachbauen. Von einer Seite aus erscheinen die in zwei Geschossen übereinander gesetzten blauen, roten und orange Materialcontainer wie eine mächtige Barrikade. Von anderen Standorten aus ist es mal ein schwerer roter Vorhang, der aus großer Höhe herabfällt, mal ein Stück ordentlich gemauerte Wand aus weißen Ytong-Bausteinen mit eingeklemmten Zeitungen und fließenden Spitzenstoffen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Doch die verschiedenen „Bausteine“ sind nicht nur durch die taktilen Eigenschaften des Materials präsent. Ihre Eigenfarben und die hinzugefügte Malerei wirken mindestens ebenso effektvoll. Die intensive Farbigkeit der monströsen Rauminstallation setzt sich zudem in einer abstrakten Boden- und Wandbemalung fort, die im obersten Teil der Wand in einen gefalteten Stoff übergeht, der sich um das klassizistische Gebälk legt.

Schon mit einer einzigen Installation produziert Stockholder für den Betrachter ein Gefühlschaos: von wütenden Barrikaden über kühl berechnendes Bauen bis hin zu heiter nachlässiger Assemblage.

Doch es kommt noch etwas hinzu, das das spontane Bauen zugleich stört und bestätigt. Gleich neben den übereinander getürmten Stahlcontainern erhebt sich auf einem aus Sofatischchen zusammengesetzten Podest ein Bauwerk aus Legosteinen: unregelmäßiger Grundriss, glatte Fassaden aus weißen und farbigen Steinen, die beliebig miteinander verzahnt sind. Schließlich ist ein extrem lang gestreckter Raum der ideale Ort für Stockholders Arbeit von 1991 „Making a Clean Edge II“. Hier zeigt sich das Bauen von seiner nützlichen Seite.

Ein roh gezimmertes Holzgestell nimmt alles auf, was Raumecken gewöhnlich verstopft, von überflüssigem Plunder bis zu Säcken mit Papiermüll. Doch am Ende erweisen sich auch Gestelle, die der Ordnung dienen, als Raumvernichter.

Stockholders Arbeiten zeigen die verschiedenen Gesten des Miteinanders, vom Anrempeln bis zur zärtlichen Umarmung. Ihre Assemblagen nehmen den Gegenständen weder ihre Namen noch ihre Erkennbarkeit. Lampen bleiben Lampen und Zitronen Zitronen. Beim Verbautwerden ergeben sich ungewohnte neue Nachbarschaften, die beim Betrachter an Verstand, Sinne und vor allem an die Fähigkeit zur Selbstironie appellieren. Mit welchen Künstlern könnte man die Amerikanerin in einem Atemzug nennen, ohne ihr Gewalt anzutun? Namen wie Robert Rauschenberg und Frank Stella werden immer wieder genannt. Warum nicht Martin Kippenberger oder Imi Knoebel?

1990 stellte Stockholder in der Kölner Galerie Isabella Kacprzak erstmals zusammen mit Mary Heilman aus. Die 1940 in San Francisco geborene Malerin hatte ihre jüngere Kollegin zu einer Gemeinschaftsausstellung eingeladen. Heilman gehört heute zu den bedeutendsten Vertreterinnen einer zeitgenössischen Malerei, die den Prozess der Dekonstruktion für abgeschlossen erklärt.

In St. Gallen werden auf Wunsch von Stockholder parallel zu ihrer Ausstellung die Bilder Heilmans aus der Sammlung Hauser und Wirth (St. Gallen) gezeigt. In den kleinformatigen Gemälden der Siebzigerjahre mit ihren einfachen Gitterstrukturen und Symmetrien zieht Heilman eine Summe aus den verschiedenen Spielarten selbstreferenzieller Malerei. Sie tut das in einer abstrakten malerischen Sprache, die sich gegen geometrische Formelhaftigkeit wehrt und zugleich Spuren individueller Malprozesse auslegt, die mit dem eigenen Erleben, Vorstellen und Erinnern zu tun haben.

Eine aus vier gleich großen Quadraten geformte achteckige Leinwand – drei Quadrate grün, eins schwarz, darüber bunte Punkte und ein Netz aus schwarzen und grünen Linien – stellt sich vor mit „Charming Billy“ (1998). Dabei kommen einem noch einmal die Titel der Installationen von Jessica Stockholder in den Sinn: Sie erklären nichts, stimmen aber mit dem überein, was man sieht.

Bis 25. 6., Kunstmuseum St. Gallen

Hinweis:Weil man das Resultat nicht mit einem Blick erfassen kann, wird das Sehen beim Herumgehen zu einer Art Nachbauen