Der Hunger nach Freiheit

Ben Brik ist eine der letzten kritischen Stimmen, die aus Tunesien über das Mittelmeer dringt. Sein Hungerstreik macht anderen Journalisten Mut

von REINER WANDLER und DOROTHEA HAHN

Tunesiens Präsident Zine El Abidine Ben Ali kämpft mit den Methoden, die er auf der Schule für Geheimdienstler gelernt hat: Ausgerechnet als die Ärzte dem Journalisten Tawfik Ben Brik am Montag nachmittag, dem 28. Tag seines Hungerstreiks, die sofortige Einweisung in ein Krankenhaus empfahlen, gaben ihm die Behörden seinen Reisepass zurück. „Dieses Dokument ist ein wertloser Fetzen“, reagierte der 39-jährige Tunesienkorrespondent der französischen Katholikenzeitung La Croix sowie der Nachrichtenagenturen „Infosud“ und „Syfia“. Denn das richterliche Ausreiseverbot gegen ihn bleibt bestehen. Auch das Verfahren wegen seiner Veröffentlichungen über die Lage der Menschenrechte läuft weiter. Ihm werden „Verbreitung falscher Nachrichten“, „Aufstachelung zu Unruhen“ und „Verleumdung der Sicherheitskräfte“ vorgeworfen. Dafür drohen dem Korrespondenten sechs Jahre Haft.

Briks Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Seit dem 3. April, als er nach einer Vorladung vor Gericht in den Hungerstreik trat, hat er mehr als 20 Kilogramm Gewicht verloren. An jenem Tag verhängte der Richter das Reiseverbot. Seinen Pass hatten die Behörden bereits ein Jahr zuvor einbehalten Obwohl seine Ärzte erklärten, dass „ jederzeit eine schwere Herz-Kreislauf-Krise eintreten kann“, gibt Ben Brik nicht auf. „Ich kann doch nicht einen Reisepass gegen meinen Bruder und meine Freunde eintauschen“, begründet er diesen gefährlichen Entschluss. Er will seine Aktion nicht abbrechen, bis sein Bruder Jelal auf freiem Fuß ist und bis seine von Polizisten zusammengeschlagenen Freunde auf Staatskosten ärztlich betreut werden.

Der Bruder Jelal war vor einer Woche verhaftet worden, als er zusammen mit einer Delegation von französischen und Schweizer Journalisten Tawfik Ben Brik besuchen wollte. Dabei war es zum Handgemenge mit den Polizeibeamten gekommen, die das Gebäude hermetisch abschirmen. Jelal, der seit seiner Verhaftung ebenfalls im Hungerstreik ist, erwartet jetzt ein Gerichtsurteil wegen „Aggressionen gegen drei Beamte bei Ausübung ihrer Funktion“ und „Missachtung der guten Sitten“. Am Montag schlossen sich fünf weitere Geschwister des Journalisten der Aktion an und traten in einen unbefristeten Hungerstreik.

Das entschlossene Vorgehen macht anderen Mut. Längst geht es nicht mehr nur um die Reisefreiheit für Tawfik und die Haftentlassung von Jelal, sondern auch um die „vollen Bürgerrechte“ für den Journalisten und um die Freilassung und Wiedergutmachung für alle Menschenrechtsaktivisten, die im bisherigen Verlauf seines Hungerstreiks von den Behörden belästigt oder gar in Haft genommen wurden. Sie verlangen auch die sofortige Wiedereröffnung des am 10. April von der Polizei geschlossenen oppositionellen Verlags Aloès, in dessen Räumen Tawfik Ben Brik seinen Hungerstreik begonnen hatte. Heute wollen sich 20 weitere Journalisten und Menschenrechtsaktivisten dem Solidaritätshungerstreik anschließen. Und verschiedene verbotene tunesische Menschenrechtsorganisationen verlangen mittlerweile die Freilassung mehrerer verhafteter Anwälte.

Tunesiens Präsident Ben Ali toleriert keinerlei Opposition. Der von ihm nach seinem Putsch gegen den Vater der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba, am 7. November 1987 eingeleitete „Frühling der Demokratie“ war schon bald zu Ende. Nach dem sich der General und ehemalige Sicherheitschef mittels massiv gefälschter Wahlen mit mehr als 99 Prozent der Stimmen als Machthaber bestätigen ließ, begann eine Welle der Repression, wie sie Tunesien bis dahin noch nicht erlebt hatte. Während die Welt erschrocken auf das benachbarte Algerien schaute, ließ Ben Ali in seinem Urlaubs- und Investitionsparadies linke Parteien, islamistische Gruppierungen und Gewerkschaften verbieten. Wer nicht fliehen konnte, machte mit den Folterkellern des Landes Bekanntschaft.

Menschenrechtsorganisationen wurden verboten, Anwälte und Intellektuelle, die versuchen die Situation im Land bekannt zu machen, „wegen Verbreitung falscher Tatsachen“ abgeurteilt, ganze Sippen werden verfolgt. Frauen, die mit ihren exilierten Männern Kontakt aufnehmen, müssen mit einen Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation“ rechnen.

Ben Brik ist eine der letzten kritischen Stimmen, die noch aus Tunesien über das Mittelmeer zu der einstigen Kolonialmacht Frankreich dringt. Sein Name wurde dort einem großen Publikum bekannt, als im vergangenen Jahr mutmaßliche Zivilpolizisten dem Journalisten einen Arm brachen. Damals sah sich das Pariser Außenministerium genötigt, in Tunis auf Aufklärung zu drängen.

Seit Ben Brik Anfang dieses Aprils in den Hungerstreik trat, löste das in Paris zahlreiche kritische Erklärungen gegenüber dem Regime in Tunis aus: Eine Schwester des Hungerstreikenden wurde am Sitz des Staatspräsidenten empfangen; mehrere Minister der rot-rosa-grünen Regierung erinnerten den tunesischen Präsidenten an seine „Verpflichtungen gegenüber der EU“, die 1995 ein Assoziierungsabkommen mit Tunesien unterschrieb; die französische Botschaft in Tunis schickte einen Diplomaten an das Bett des Hungerstreikenden, und der Chef der Sozialisten, François Hollande, mahnte: „Es gibt Regeln in der Demokratie.“ Die Mitgliedschaft der Ben-Ali-Partei RCD in der sozialistischen Internationale freilich, zu der auch die deutsche SPD gehört, stellte er nicht in Frage.

Dennoch sind derartige Distanzierungen neu in Paris, wo der Ex-Geheimdienstler Ben Ali bislang durchweg Unterstützung genoss. Jahrelang brach der französische Botschafter in Tunis systematisch den Kontakt zu Oppositionellen ab, sobald Ben Alis Behörden begannen, sie zu schikanieren. Der sozialistische Staatspräsident François Mitterrand attestierte, dass es sich in Tunesien „gut leben“ ließe, und der heutige neogaullistische Staatpräsident Jacques Chirac prägte schon 1992 das oft wiederholte Wort vom „tunesischen Wunder“.

Eine fest im Etablissement verankerte französische Tunesien-Lobby, deren Mitglieder teilweise „Pieds-noirs“ sind – Aussiedler, die Tunesien bei der Unabhängigkeit im Jahr 1956 verlassen mussten –, sorgte jahrelang für Unterstützung für den Polizeistaat. Der in Tunis geborene Neogaullist und Pariser Bürgermeisteranwärter Philippe Séguin lobt regelmäßig die „Fortschritte in der Wirtschaft“. In Paris gehört es zum guten Ton, Villen im nur zwei Flugstunden entfernten Hammamed zu haben. Und zahlreiche Journalisten lassen sich ohne Skrupel von dem Regime zu bezahlten Aufenthalten in Wüstenoasen einladen.

Die seit Jahren bekannten polizeistaatlichen tunesischen Methoden im Umgang mit jedweder Opposition nahmen rechte wie linke französische Politiker stillschweigend in Kauf. Der gegen die „islamistische Drohung“ kämpfende Ben Ali galt als einziger Garant für die Stabilität in dem kleinen Land in der Sandwichposition zwischen Libyen und Algerien. Die in der Region liegenden Geheimgefängnisse des Monarchen Hassan II in Marokko, die blutigen Machtkämpfe zwischen Militärregime und islamistischen Gruppen in Algerien und das hermetisch abgeriegelte Reich von Ghaddaffi, dienten in Paris als zusätzliche Argumente für die Unterstützung für Ben Ali.

Doch in den vergangenen Monaten gerieten die Verhältnisse im Maghreb durcheinander. In Marokko fiel der Thron an Mohammed VI., in dem Paris heute einen Reformmonarchen vom Kaliber des spanischen Juan Carlos sieht. Der neue algerische Präsident Bouteflika versucht eine „friedliche Aussöhnung“. Und der Libyer Ghaddafi feierte auf dem Afrika-Gipfel ein viel beachtetes internationales Comeback, zu dem auch die Auslieferung der beiden in der Lockerbie-Affaire verdächtigten Agenten gehört.

Angesichts dieser neuen Entwicklungen im Norden Afrikas begann Paris mit anderen Augen auf das Regime in Tunis zu gucken und plötzlich auch dessen polizeistaatliche Exzesse strenger zu bewerten. Unter anderem wurde auch ein für das Frühjahr geplanter Tunesien-Besuch des französichen Premierministers Lionel Jospin auf den Herbst verschoben.

Zu der Sensibilisierung trugen neben Unruhen in verschiedenen südtunesischen Städten auch die besorgniserregenden Berichte von Menschenrechtsgruppen bei. Darunter jener des in Tunesien verbotenen „Nationalen Rates für die Freiheiten“, dessen Veröffentlichung einer der Vorwände für die Ermittlungen gegen den Journalisten Ben Brik war.

Von einem offenen Bruch zwischen Paris und Tunis kann freilich keine Rede sein. Allenfalls von ernsten Mahnungen an Ben Ali. Ein sicheres Anzeichen für die Kontinuität in den franco-tunesischen Beziehungen ist die Sonderbehandlung, mit der Paris tunesische Flüchtlinge schikaniert. So hält das Innenministerium seit 1993 den tunesischen Islamisten und anerkannten politischen Flüchtling Salah Karker unter Hausarrest – obwohl die „islamistische Bedrohung“ in Tunesien nach Einschätzung französischer Sicherheitsexperten längst gebannt ist.