Ein zäher Prozess

Die Verhandlung um das Lockerbie-Attentat hat nur ein Ziel: ein schmerzloses Ende
von CHRISTOPH REUTER

Die aufwendigste Kriminalarbeit der Geschichte: Mehr als elf Jahre lang wurde ermittelt. 15.000-mal wurden Zeugen in über 20 Ländern vernommen. Abertausende kleinster Flugzeugtrümmer wurden zusammengesetzt. Ein schottisches Gericht wurde auf niederländischem Boden installiert. Zweimal wurde er verschoben, gestern begann er: der Prozess gegen die mutmaßlichen Bombenattentäter auf den PanAm-Flug 103, am 21. Oktober 1988 abgestürzt auf die schottische Kleinstadt Lockerbie.

Doch der einzige Staatschef, der sich tatsächlich darüber zu freuen scheint und bereits ankündigte, den Ausgang eines „fairen und gerechten“ Verfahrens gegen die beiden libyschen Beschuldigten zu akzeptieren, ist Libyens Revolutionsführer und Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi. Keine dramatische Ansprache aus dem Weißen Haus, kein Appell von Tony Blair, dass die Terrorschergen des einst von Ronald Reagan als „gefährlichster Mann der Welt“ befundenen Gaddafi sich nun vor Gericht verantworten müssen für das, was britische und US-Ermittler ihnen vorwerfen: den Tod von 259 Flugzeuginsassen und 11 Bürgern Lockerbies verschuldet zu haben.

Denn so vehement die USA und Großbritannien Libyen jahrelang als Schuldigen verdammten, so still sind sie nun geworden. Was im November 1991 als zwingende Indizienkette gegen die beiden Libyer Amin Chalifa Fhimah und Abdel Basset al-Megrahi präsentiert wurde, hat sich nach und nach als derart brüchig erwiesen, dass der deutsche, parallel in Sachen Lockerbie ermittelnde Staatsanwalt Volker Rath in kleiner Runde schon mal eingestand: Die derzeitige Beweislage würde nicht einmal mehr für eine Anklageerhebung ausreichen.

Denn die Version der Anklage vom Absturz über Lockerbie bis zu den zwei libyschen Verdächtigen Fhimah und Megrahi fußt auf dem Routenverlauf, den der Bombenkoffer genommen haben soll: Fhimah habe sich als Angestellter der Libyan Arab Airlines auf Malta Zutritt zum Ladeterminal von Air Malta verschafft und den Koffer in die Zubringermaschine nach Frankfurt geschmuggelt. Dort sei die Bombe in die PanAm-Maschine nach New York umgeladen worden und schließlich über Schottland explodiert.

In der Zwischenzeit stellte sich heraus:– Der FBI-Forensiker, der 1990 behauptete, ein an der Absturzstelle gefundenes Fragment einem nach Libyen gelieferten Zündermodell zuordnen zu können, ist vom FBI mittlerweile wegen Fälschung von Beweisstücken in anderen Fällen, darunter dem Bombenanschlag von Oklahoma City, gefeuert worden.– Der Zünder der Schweizer Firma Mebo wurde auch an den Staatssicherheitsdienst der DDR geliefert.– Der einzige Zeuge der Anklage, der die beiden Libyer beim Einschmuggeln der Bombe beobachtet haben will und sich Jahre später an die US-Behörden gewandt hat, war schon Monate vor dem Anschlag CIA-Agent.

Zeugen wurden erst elf Jahre nach dem Anschlag vernommen

Darüber hinaus gewann Air Malta bereits 1993 einen Prozess vorm Londoner High Court gegen eine TV-Firma, die sich die Version der Anklage zu eigen gemacht hatte – doch die Airline konnte den Verbleib jedes registrierten Gepäckstücks des fraglichen Flugs nachweisen. Mithin wäre es wahrscheinlicher, dass der Bombenkoffer erst in Frankfurt oder in London an Bord kam. Dann aber fiele die Anklage in sich zusammen.

Nach jahrelangem Tauziehen hatte Libyen vor einem Jahr schließlich die beiden Angeklagten ausgeliefert, nachdem sich alle Seiten darauf geeinigt hatten, den Prozess zwar – wie von den USA gefordert – nach schottischem Recht, aber – wie von Libyen verlangt – in einem neutralen Land stattfinden zu lassen. Doch in den vergangenen Monaten schien es, als seien die treibenden Kräfte USA und Großbritannien von ihrem offiziellen Erfolg überrascht worden: Zwei der wichtigsten Zeugen der Anklage, obschon seit Jahren bekannt, wurden erst im Herbst 1999 zu ersten Gegenüberstellungen geladen: Edwin Bollier, der mutmaßliche Hersteller des Bombenzünders, hatte sich jahrelang vergeblich bemüht, das winzige Fragment und einzige Relikt der Bombe zu Gesicht zu bekommen. Im September nun wurde er nach Schottland geladen, bekam das fingernagelgroße Fragment einer Platine zu sehen – und gab prompt zu Protokoll, dass dieses Teil erstens nicht aus seiner Produktion stamme und zweitens als Zünder nie funktioniert haben könne. Der zweite Zeuge, Toni Gaucci aus Malta, hatte Monate vor dem Anschlag jene Kleidungsstücke verkauft, deren verschmorte Reste später als Hülle um den Sprengsatz identifiziert wurden. Gaucci, der rund 18-mal vernommen wurde, „aber nie irgendjemanden sicher erkannt hat“ (ein hoher maltesischer Polizeioffizier), wurde letztes Jahr nach Camp Zeist zur Gegenüberstellung mit dem ausgelieferten Megrahi geflogen. Und soll ihn identifiziert haben – nachdem Megrahis Konterfei fast zehn Jahre lang durch die Weltpresse gegangen ist.

Was gestern auf dem einstigen Militärstützpunkt Camp Zeist begann, ist nicht nur einer der aufwendigsten und teuersten Gerichtsprozesse der Historie, sondern auch einer, der – Ironie der Geschichte – überhaupt nur stattfindet, weil ihn so recht keiner mehr gewollt hat. Die USA haben für Libyen als Feindstaat keine Verwendung mehr, sondern mit Irak, Afghanistan und Serbien genügend reelle Gegner. Europa war und ist mehr am libyschen Öl interessiert. Und Gaddafi hat die Unterstützung für Terrorgruppen aller Couleur eingestellt, möchte bei der Annäherung der Mittelmeer-Anrainer nicht außen vor bleiben und hat, sagen Diplomaten in Tripolis, als Gegenleistung für die Auslieferung der beiden Angeklagten ausgehandelt, dass nur sie auf der Anklagebank landen, nicht der libysche Staat und schon gar nicht dessen Herrscher. Die Verhandlungen, so Gaddafi am Mittwoch in einem Interview, dürften nicht über die „Zerstörung“ des PanAm-Jets hinausgehen, sonst werde „eine endlose Kette losgetreten“.

Eine mögliche Schuld Syriens oder des Iran will niemand prüfen

Befindet das Gericht, die Schuld der Angeklagten sei nicht hinreichend erwiesen, hat der Prozess ein Ende – womit alle Beteiligten glücklich sein dürften.

Denn woran nun überhaupt niemand Interesse hat, das wäre ein Wiederaufrollen von zwei anderen Tatversionen, für die ebenfalls eine Reihe von Indizien sprechen: Nach der einen Version war nicht Libyen, sondern Iran der Auftraggeber des Anschlags: ein Racheakt für den Abschuss einer iranischen Zivilmaschine durch das US-Kriegsschiff „Vincennes“. Ausgeführt habe den Anschlag die palästinensische Terrorgruppe PFLP-GC, die von Syrien und der libanesischen Bekaa-Ebene aus operierte. Nach der anderen Version lief die Kooperation einer CIA-Gruppe mit libanesischen Drogenschmugglern aus dem Ruder: Statt Hilfe bei der Befreiung von US-Geiseln im Libanon zu leisten, nutzten die Libanesen die Sicherheitslücke, um via Frankfurt den Sprengsatz ins Gepäck zu schmuggeln. Das klingt abenteuerlich, aber eine solche Kooperation hat es in der Tat gegeben. Doch eigene Pannen zu offenbaren oder – mit Syrien – einen Verhandlungspartner des nahöstlichen Friedensprozesses zu brüskieren ist in niemands Interesse. Dieser Prozess scheint also vor allem ein Ziel zu haben: beendet zu werden.