Selbstbewußte Zeugen ihrer Zeit

Zwei britische Reiseberichte des 18. Jahrhunderts über wilde und ferne Regionen im Norden

Weil ihr Geliebter sie loshaben wollte, schickte er sie auf Geschäftsreise nach Skandinavien. Mary Wollstonecraft, die Mutter der Erfinderin des Dr. Frankenstein, spürte, dass die Beziehung zu Ende war. Dieses Gefühl der Beklemmung und Trauer durchzieht ihren Bericht, der sich aus Briefen an eben jenen Geliebten zusammensetzt. Das hindert sie aber nicht, in der frisch aufgeklärten Weise des 18. Jahrhundert den Stand der Zivilisation in Schweden und Dänemark zu beurteilen, wie er sich ihr im Jahre 1795 darbot.

England und insbesondere die Bewohner der Metropole London sahen sich als die Speerspitze gesellschaftlicher Entwicklung. Damals herrschte - zumindest bei den Leuten, die nicht mit Rousseau zurück zur Natur wollten - ein unbedingter und unerschütterlicher Fortschrittsglaube. „Je kultivierter der Verstand und ausgeprägter der Geschmack“, so Wollstonecraft, desto „stärker werden die Leidenschaften“. Auf Skandinavien trifft aber eben das nur bedingt zu. Zwar seinen die Menschen in ihrer einfachen Art nicht unsympathisch, aber wahres Feingefühl und vor allem Geschmack gehe ihnen ab, konstatiert die Geschäftsreisende. Auch was die Erziehung ihrer Kinder anbelangt, stehe es nicht zum besten. Wie alle „Naturvölker“ neigten auch die Skandinavier dazu, ihre Kinder zu lax zu behandeln und unvernünftigerweise zu warm anzuziehen. Kein Wunder, „dass sie so wenig lebhaft sind.“

Wollstonecrafts Reisebericht leistet, was alle Reiseberichte leisten, die weniger auf Abenteuer denn auf Reflexion aus sind: Sie sagen in erster Linie etwas über die Herkunft des Autors aus. Und gerade das macht den Bericht spannend. Dass sich Wollstonecraft so gefangen im „aufgeklärten“ Denken des 18. Jahrhunderts zeigt, weist uns darauf hin, wie gefangen im „postmodernen“ Denken unserer Zeit wir selbst sind - nur: wir merken es nicht.

Aus derselben Zeit, aber anderen Umständen stammt der Bericht des Tiefland-Schotten James Boswell über eine Reise zu den Hebriden im Jahre 1773. Seit der Vereinigung von England und Schottland Teil Großbritanniens, galten die schottischen Inseln als mindestens genauso unwegsam und wild wie der amerikanische Urwald. Boswell bereist die Hebriden zusammen mit seinem Freund und Lehrmeister Samuel Johnson, dem führenden Moralisten der Zeit - der natürlich aus London kommt. Der Zweck ihrer Reise ist ein ethnologischer. Wie leben denn diese rauhen Leute hoch im Norden, deren Sprache noch nicht einmal das geschriebene Wort kennt?

Bereits in Edinburgh fühlt sich Johnson von der Zivilisation verlassen. Wegen mangelnder Abwasserkanäle stink es ihm. „Ich rieche Sie im Dunkeln“ meint er beim Abendspaziergang zu Boswell, der dieses Bonmot getreulich aufzeichnet. Überhaupt ist der Bericht in erster Linie interessant, weil er die Beziehung zwischen Meister und Bewunderer vor den Bericht über das Gesehene stellt. Nichts ist für Boswell schlimmer, als Johnson in schlechter Stimmung. Als der ihm gar die Freundschaft aufzukündigen droht, ist es mit seiner Seelenruhe vorbei. Zum Glück lenkt Johnson schnell ein. Er weiß, was er an Boswell hat - wie Goethe an seinem Eckermann.

Die Hochländer selbst zeigen sich wesentlich gebildeter als es die beiden Tiefländer annehmen. Sogar Bücher haben sie, und nicht einmal wenig. Naiv sind in erster Linie die „Zivilisierten“, die im Spätsommer über die Inseln reisen, als wegen der häufigen Unwetter ein solches Unterfangen gefährlich, wenn nicht sogar dumm ist.

Zwei Bücher also, die mehr über die Mentalität gebildeter Briten aussagen als über die Gegenden, die sie bereisen. Aber gerade darin sind sie ein beeindruckendes Zeugnis der Zeit. So wie die Autoren ihr eigenes Denken an fremden Gestaden spiegeln, so kann der Leser sein Denken in diesen Texten der Geschichte reflektieren. Und das ist sehr anregend. MARTIN HAGER

Mary Wollstonecraft: „Reisen in Skandinavien“. Verlag Karl Stutz, Passau 1991, 176 Seiten, 25 Mark

James Boswell: „Dr. Samuel Johnson. Leben und Meinungen“. Mit dem Tagebuch einer Reise nach den Hebriden. Diogenes Verlag, Zürich 1981, 818 Seiten, 26,80 Mark