: Russlands genetischer Code
Am Sonntag wird Präsident Putin in sein Amt eingeführt. Seine Gefolgschaft rekrutiert sich nicht nur aus Apologeten der Vergangenheit. Aber der Weg in die Demokratie bleibt eine Odyssee
von KLAUS-HELGE DONATH
Russland tut sich schwer mit der Gegenwart. Genau genommen gibt es sie nicht. Das Land lebt entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit, ohne dass der Gegenwart eine vermittelnde Rolle zukäme. Ausgleich und Vermittlung, die Schöpfung eines dritten neutralen Elements, kennt die russische Kultur nicht. Die Erkenntnis ist nicht neu. Seit dem 19. Jahrhundert haben die hellsten Köpfe des Landes die tragische Zerrissenheit der russischen Zivilisation, ihren unversöhnlichen Dualismus, erkannt und beklagt. Gegensätze suchen nicht den Akkord, sie haben es auf Vernichtung abgesehen. Russland oszilliert zwischen den Polen einer statischen Dialektik. Opfer ist immer die schwach markierte Gegenwart. Erst die eigene Zukunft – im nie Gegenwart gewordenen Kommunismus – zu durchleben „und sich dann in der Nachhut der Weltgeschichte, im fernen Vorfeld zum Kapitalismus wieder zu finden“, räsonniert Michail Epstein, einen solchen Schock des Zusammenstoßes mit der eigenen Vergangenheit habe wohl keine der westlichen Kulturen durchlebt.
Ist Russland inzwischen wieder des Neuanfangs und Nachholens überdrüssig? Die Wahl Wladimir Putins zum neuen Kreml-Chef vermittelt zumindest den Eindruck. Dessen Inthronisierung erinnert mehr an eine demutsvolle Salbung denn an eine Wahl, in der Bürger sich von ihren Interessen leiten lassen. Attribute einer politischen Kultur des Ostens sind dabei nicht zu übersehen: Macht und Gewalt unterliegen keiner gesellschaftlichen Kontrolle, wie der Tschetschenienkrieg zeigt. Die Führungsfigur umgibt sich mit einem Nimbus dogmatischer Unfehlbarkeit. Staatsinteressen genießen klar Vorrang vor Bürgerrechten. Konflikte werden im selektierten Kreis durch Kungelei und pragmatische Entscheidung gelöst statt durch formalisierte Verfahren. Kurzum: Traditionalismus ist auf dem Vormarsch und droht die schwache gesellschaftliche Dynamik zu ersticken.
Indes prägten Wesenszüge dieser politischen Kultur auch die Herrschaft Boris Jelzins. Nur erhält Putin im Unterschied zum Amtsvorgänger rauschenden Beifall, wenn er traditionelle Verhaltensweisen demonstrativ zum „genetischen Code“ Russlands erklärt. Beifall – von allen Seiten. Trotzdem ist die Einheit zwischen Volk und Kreml-Herrn fragil. Unter dem dünnen Firnis nationaler Verzücktheit liegt eine Gesellschaft, die, in sich atomisiert, keine Bindungen entwickelt hat, die soziale Kohäsion garantieren könnten. Ein Jahrzehnt nach dem Kollaps des Kommunismus verfügt das Land immer noch nicht über ein verbindliches Entwicklungskonzept, gemeinsame Werte oder ein klares Ziel. Selbst der neu erwachte Militarismus, der im Kaukasus mörderisch wütet, verdeckt diesen Mangel nur notdürftig.
Fernab des Schlachtfelds trägt die russische Wehrhaftigkeit karnevaleske Züge und erinnert zuweilen an Ahnenbeschwörung oder Autosuggestion. Hurra-Patriotismus hat noch keinen Krieg entschieden. Vor allem liefert er kein tragfähiges Fundament für einen neuen Sonderweg, den Ideologen der Rechten und Linken propagieren. Hierfür bedarf es heute mehr als vor hundertfünfzig Jahren, als innenpolitische Zwänge und Modernisierungsdruck noch durch koloniale Expansion neutralisiert werden konnten.
Intensiviert Moskau nicht das innere Wachstum, wächst der Abstand zu den entwickelten Industrieländern exponentiell. Wann die Ränder des Reiches wegbrechen, wäre dann nur noch eine Frage der Zeit. Putin versteht das, und sein forsches Auftreten gegenüber den Regionen ist daher nicht nur Machtanmaßung eines Autokraten, sondern der Versuch, dem chronischen „Unterregiertsein“ der Provinz entgegenzuwirken.
Ein Sonderweg, der Isolation einkalkuliert, verlangt Ressourcen, über die der Staat nicht verfügt. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung ist Russland kein übermäßig reiches Land. Unwirtliches Klima, riesige Ausdehnung und magere Bodenbeschaffenheit relativieren den Rohstoffreichtum. Die Versklavung weiter Teile der Gesellschaft unter Stalin glich das Defizit aus. Auch wenn Russland als ein Paradebeispiel der Mobilisierung von oben gilt, die heutige Gesellschaft ist zu heterogen, um kollektiv ins Arbeitslager zu marschieren. Totalitäre Ideologien und Konzepte haben daher keinen Erfolg mehr. Anders steht es um autoritäre Methoden der Herrschaftsausübung. Putins Anhänger rekrutieren sich aus Apologeten der Vergangenheit, die der Präsident in seiner Eigenschaft als Ex-KGBler anspricht, und jenen, die in ihm den Herold der Zukunft – eines effizienten, an Rentabilitätskriterien orientierten Managements – sehen. In der Vorstellungswelt der Wähler hebt Putin den unversöhnlichen Dualismus auf. Die Praxis wird ihn dazu zwingen, die Gegenwart deutlich zu markieren. Versteift er sich auf Remilitarisierung und Rüstungsproduktion, ist Russland dem Untergang geweiht. Insofern bleibt ihm keine andere Wahl, als nach vorne zu schauen.
Indes werden die Mechanismen der Herrschaftsausübung noch lange nicht unserem Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entsprechen. Konvergenz ist eher zufällig. Die russische Gesellschaft begreift das auch noch nicht als Manko. Herrschaftsausübung und gesellschaftlicher Wertekanon sind traditionell. Weswegen es im Westen schwer fällt zu begreifen, warum der Transformationsprozess schwieriger verläuft als in anderen osteuropäischen Staaten. Das historische Gedächtnis konnte dort auf ein rudimentäres Verständnis von Freiheit und Marktwirtschaft zurückgreifen. Nicht so in Russland, wo Staat und Gesellschaft nach wie vor ein Eigenleben führen. In der sozialen und individuellen Ethik überwiegen Normen und Verhaltensweisen einer geschlossenen Gesellschaft. Nur weniges ist öffentlich kontrollier- und verhandelbar. Daraus resultiert die beherrschende Rolle individueller und informeller Beziehungen, die den gesellschaftlichen Austausch regeln. Insofern ist Russland eine vormoderne Gesellschaft geblieben. Die Konsensfindung beruht nicht auf Diskussion und freier Willensentscheidung, sondern auf Zwängen und drohenden Sanktionen. Von Putin erwartet man eine härtere Gangart und gleichzeitig Zuwendung. Was andernorts als unversöhnlicher Widerspruch gelten mag, passt in Russland spielend unter einen Hut.
Untersuchungen belegen, Bürger, die einen starken autoritären Staat fordern, möchten keinesfalls auf die persönlichen Freiheiten der letzten Jahre verzichten: Meinungs-, Reise-, Handels- und Gewerbefreiheit sind längst verankerte Werte. Universale Menschenrechte aber sind der Mehrheit nach wie vor suspekt. Russlands Weg in die Demokratie bleibt eine Odyssee, den Dimensionen des Riesenreiches angemessen. „Strategische Geduld“ ist gefordert. Das russische Modell wird sich vom Westen unterscheiden. Nicht zufällig wächst das Interesse der russischen Publizistik in jüngster Zeit an den kollektiveren Zügen des japanischen Modells und den Staaten Südostasiens. Schließlich ist Russland ein eurasischer Staat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen