Liebe ist schön. Sex auch

Beim Jugendkulturfestival in Freiburg und Basel hat „Sex“, das neue Theaterprojekt von Ingrid Braun, Premiere. Ihre Arbeiten mit Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft sind auf eine Weise interkulturell, dass sich dieses Etikett selbst überflüssig macht. Eindrücke von den Proben

von VERONIKA KABIS-ALAMBA

In synchronen, ungebrochenen Bewegungen gleitet das Paar über die Bühne, sie umkreisen einander, erspüren sich mit den Händen, ziehen sich sanft zu Boden. Es ist keine Anmache. Es ist Verführung. Romanze. Liebe ist schön. Sex auch.

Doch sind es nur wenige Szenen in diesem Tanztheater, die den Zuschauer an der Harmonie menschlicher Beziehungen teilhaben lassen. Masturbation, Sadomaso, die ganze Palette gewaltreicher Beziehungen haben sich die jugendlichen SchauspielerInnen und TänzerInnen in ihre überwiegend selbst entwickelte Choreografie hineingeschrieben. Über die Vergewaltigungsszene haben sie lange diskutiert, um sie am Ende doch zu streichen. Weil sie so schwer zu spielen ist und beim Publikum nicht falsch ankommen soll. „Außerdem heißt’s sonst wieder, die Männer, die Schweine“, kommentiert Hamse, ein jugendlicher Mitspieler nicht ohne Sarkasmus.

Die Gespräche am Bühnenrand eröffnen manch interessanten Einblick in die Nebenschauplätze im jugendlichen Geschlechterkampf. Das Projekt möchte sein Publikum mit einem Tanztheater konfrontieren, das alle Tabus fallen lässt, hieß es in der Ausschreibung, auf die sich die jungen Leute aus Freiburg und Basel bei Ingrid Braun und Margarethe Mehring-Fuchs im Freiburger Haus der Jugend gemeldet hatten. Doch welche Tabus gilt es für die Vierzehn- bis Zwanzigjährigen überhaupt noch fallen zu lassen, die Generation, die sich beim Zappen durch die Fernsehkanäle von klein auf ein unverhülltes Bild von Sexualität in all ihren Facetten zusammenpuzzeln konnte?

Dennoch begreifen sich die Jugendlichen als revolutionär und sind stolz darauf, dass sie um alle Spielarten von Sex wissen. „Wer weiß, was dabei herausgekommen wäre, wenn wir den beiden älteren Damen das Schreiben der Szenen überlassen hätten“, frotzeln sie hinter vorgehaltener Hand. Die beiden „älteren Damen“ nehmen’s gelassen, sollen die Jungs ruhig glauben, dass sie das Monopol auf Liebe und Sex besitzen.

Doch da schleicht sich zwischen die Bilder von der peitschenden Domina, der lasziven Stripperin, der Angebeteten, die die Avancen des liebeshungrigen Krüppels brutal zurückweist, eine leise Szene: Ein Mädchen träumt vom „ersten Mal“. Die Fantasie von der sanften, gegenseitigen Verführung, vom süßen Schmerz am warmen Strand bei Sonnenuntergang. In Wirklichkeit so oft ein Alptraum. Ihre Freundin kontert nüchtern mit ihrer Geschichte vom schnellen ersten Mal – ex und hopp: „Meine Lust ist gleich verflogen.“

Und so wirkt in diesem Tanztheater das reißerisch Tabulose als das Allgegenwärtige auf einmal fast banal. Es scheint, als sei vielleicht doch das verschämte Wort „Liebe“ das Eigentliche, das ewig Alte und doch für Ilona, die Stepperin, Jamel, den theaterbegeisterten Waffentechniker, Somi, die Ballerina, Jerry, den Punk, David, den Schauspielschüler, wieder das Neue und Aufregende.

Sex ist schön. Liebe auch. Geboren war die Idee zum Tanztheater „Sex“ aus der Erfahrung eines früheren Projekts, das Ingrid Braun, die Schauspielerin und Regisseurin, und Margarethe Mehring-Fuchs, die Sozialpädagogin, vor sechs Jahren durchgeführt haben. Es hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt, als die beiden junge Neonazis und Flüchtlinge gemeinsam auf die Bühne gebracht hatten. Im Mittelpunkt stand damals die Gewalt, die aus den scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen, aus Abgrenzung und Hass hervorgeht. Doch siehe da, es entwickelten sich Beziehungen zwischen den Protagonisten. Liebe zwischen einem rechten Skin und einem Roma-Mädchen, zwischen einer Muslimin und einem Atheisten – sie sorgte für Turbulenzen und zwang dazu, eigene Grenzen zu überschreiten.

Interkulturelle Jugendprojekte sind Inflation. Die Arbeit von Ingrid Braun ist auf eine Weise interkulturell, dass sich dieses Etikett selbst überflüssig macht. Es stimmt nur insofern, dass sie mit Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft arbeitet. Aber da geht es längst nicht mehr um ein äußerliches Erscheinungsbild von Kultur oder Abstammung, in ihren Inszenierungen treten junge Menschen auf die Bühne, in all ihren Widersprüchen, Tugenden und Unfertigkeiten.

Und vor allem: Sie nimmt die jugendlichen DarstellerInnen ernst und fordert sie heraus – entsprechend viel kommt von den Jugendlichen zurück. So haben ihre Stücke, wenngleich überwiegend mit Laien inszeniert, kein bisschen mit herkömmlichem Schülertheater gemein. Im Gegenteil, sie sind in hohem Maße professionell.

Das Stück wird im Rahmen des Jugendkulturfestivals Regio 2000 aufgeführt. Premiere: Freiburg, 19. 5. Weitere Aufführungen: Basel, 20. 5., Freiburg, 21. 5. Infos beim Kulturamt Freiburg, Tel. (07 61) 2 01 21 07 www.jkf2000.com