Fliegende Zeit

Die Wand ist eine Wiese, ist eine Welt, die Kopf steht. Aufregender Tanz, tiefe Momente und leer laufende Dramaturgie: Pina Bauschs neues „Stück“ für das Wuppertaler Tanztheater

von GABRIELE WITTMANN

Der erste Sinneseindruck an diesem Abend ist ein Geräusch: Es tropft. Es tropft von einer Wand, die eine Wiese ist: eine Wiese, die senkrecht steht. Die Welt steht Kopf in diesem phänomenalen Bühnenbild von Peter Pabst, der eine Graslandschaft gebaut hat aus dunklen und hellgrünen Flächen, aus denen unaufhörlich das Wasser rinnt.

Um Wasser wird es gehen in diesem neuen „Stück“ von Pina Bausch, das am Freitag im Wuppertaler Schauspielhaus Premiere hatte – wie immer ohne Titel. Wasser zum Haarewaschen, Baden, Trinken, Sich-gegenseitig-in-den-Mund-Spritzen. Und um Feuer: um ständig neu angezündete Zigaretten und ihren Rauch, der das Wasser zum Qualmen bringen kann.

Und es geht um Menschen und ihre Verhältnisse. Jan Minarik schiebt galant ein doppelstöckiges Liegemöbel herein: Oben residiert die Frau im Pelzmantel, unten die Frau auf dem Schafsfell. Ein Paar schiebt einen Einkaufswagen vor sich her wie stolze Eltern ihren Kinderwagen. Dominique Mercy räumt heimlich das Essen vom Tisch und das ganze Geschirr gleich mit.

Eindringliche Bilder entstehen, mit scheinbar absurden Ritualen. Jemand baut einen Turm aus Stühlen. Eine Frau kommt, setzt sich nicht drauf, sondern kriecht vorsichtig unten durch – und krabbelt oben durch die nächste Höhle zurück. Das Spiel beginnt von vorn, ein Mann steigt ihr nach. Immer höher wächst der Turm, dann baut ihn jemand wieder ab – und die Tänzer nehmen es hin und gehen ab.

Fragen ins Publikum: Liebst du jemanden? Ja? Schön. Nein? Oh! „Ich wollte, ich wäre ein Engel gewesen“, ruft Helena Pikon entsetzt. Immer wieder zieht der Traum vom Fliegen durch das Stück: Von einem meterhohen Stuhlstapel aus darf eine Frau in Männerarme eintauchen, die sie durch den Raum schweben lassen. Ein fliegender Teppich mit Fakir schwingt vorbei.Und dann, kurz vor der Pause, kippt das Bühnenbild: Bühnenarbeiter ziehen die Kopf stehende Wiese in die Schräge, die Landschaft rückt monströs und bedrohlich nahe den Tänzern zu Leibe und kommt als gewohnt waagerechte Hügellandschaft zum Liegen.

Und hier, an diesem Übergang im Dämmerlicht, gewinnt der Abend an Kraft. Helena Pikon haucht ein so zitterndes „Blue“ ins Mikrofon, dass einem vor Aufregung das Herz stolpert. Eine Ballade von Sidsel Endresen erzählt von dem Zusammenhang zwischen Fluss und Stern, Wasser und Feuer, Mensch und Kosmos. Irgendwo gibt es immer einen Fluss, der durch das Leben eines jeden Menschen fließt . . . Doch vorerst pusten Männer einer Tänzerin Zigarettenqualm ins Haar, im Slapstick-Tempo entsteht aus Pappwänden eine Stadt, mit Wäscheleine, Hühnerstall, Fußballspiel. Ein Kellner (Dominique Mercy) deckt liebevoll den Tisch, doch der Gast kommt nicht. Essensrituale aus dem Mittelalter blühen wieder auf: Man schmeißt sich das Essen zu, aus Angst, von der Pest angesteckt zu werden. Aber man feiert auch, um einen großen Esstisch. Wer kann auf dem Tisch hochspringen und auf dem Holz landen, während einer dabei das Tischtuch wegzieht?

Es sind vor allem die Tänzer, die diesen Abend gelingen lassen. Sie deklinieren durch die Kulturen hinweg die Bewegungen des Sehnens, der quälenden, verlangenden Liebe. Lange hat man nicht mehr so ausdrucksstarken Tanz gesehen, der so exakt im Körper gearbeitet ist, dass jede Muskelfaser begreifbar wird, jeder Impuls nachvollziehbar, jeder Millimeter Raum ausgelotet und mitgenommen in die Bewegung. Pina Bausch hat ihr inzwischen wieder homogenes Ensemble in den Soli hervorragend angeleitet, auch wenn das Stück noch starker Überarbeitung bedarf.

Denn noch ist das neue „Stück“ nicht fertig. Noch springt die Dramaturgie zwischen den Szenen zu unvermittelt von einem zum nächsten Punkt. Worauf wollte Pina Bausch diesmal hinaus? Die Elemente verknüpfen sich nur schwerfällig, und auch das mehr im bemühten Kopf als im sinnlichen Erleben. Aber wer weiß, was noch kommt. Denn eines sind wir ja gewohnt bei ihr: dass die Musikstücke und ihre zugehörigen Bilder uns noch wochenlang heimsuchen, und erst viel später ein tieferes Begreifen einsetzt.