Mehr als ein Sport

Die Boxkultur in den USA basiert auf zwei Voraussetzungen: Armut und Boxhallen in jedem Getto. Deutschland hat nichts davon – und sollte darüber nicht allzu traurig sein
von KEVIN MCALEER

Neun und Aus! K. o. in der zwölften Runde – und aus der Traum von der großen Boxkarriere in den USA. Markus Beyer verlor am Wochenende nicht nur seinen WBC-Weltmeistertitel im Supermittelgewicht, er kann nun auch die Dollarmillionen abschreiben, die er für einen Kampf in New York oder Las Vegas kassiert hätte. Pech für Beyer – oder symptomatisch für die fehlende Boxkultur hierzulande?

Ein kurzer Blick zurück: In den vergangenen zwei Monaten gab es zwei WBO-Weltmeisterschaftsboxkämpfe in Deutschland. Im ersten gab der Schwergewichtler Witali Klitschko wegen einer Schulterverletzung auf, und im zweiten Graciano Rocchigiani, nachdem er durch einen harten Body-Shot zu Boden gegangen war. Handtuch und Aus. Vielleicht werde ich einfach nur alt, aber ich erinnere mich an Zeiten, in denen ein Boxer bei Meisterschaftskämpfen wieder auf die Füße sprang, einige Zähne ausspuckte, dem Schiedsrichter sagte, er sei großartig in Form, und danach weiterkämpfte.

Keine Sorge, ich bin kein Befürworter blutiger Schlägereien: Doch in einem Boxkampf möchte ich die ganze Kunst des Kampfes sehen. Zumal eines sicher ist: Heute wird nicht mehr so brutal gefightet wie früher. Vor zwei Jahrzehnten waren Weltmeisterschaftskämpfe auf 15 Runden angesetzt, nicht auf 12 wie jetzt. Heute unterbrechen Schiedsrichter und Ringärzte bei oberflächlichen Platzwunden oder dem ersten Anzeichen, dass ein Boxer sich nicht mehr verteidigen kann. Viele sagen, wir haben eine Verweiblichung des Sports zu beklagen. Das ist übertrieben. Aber wenn es jemals eine Zeit in der Geschichte des Boxens gab, in der man diesen Sport ausüben konnte, ohne dass man fürchten musste, dauerhaft verletzt zu werden, dann in den letzten Jahren.

Erstaunlich ist: In dem Maße, in dem die Gefahr abgenommen hat, sind die Preisgelder gestiegen. Und noch erstaunlicher: Obwohl Klitschko und Rocchigiani nicht alle Runden durchgehalten haben, wurden sie nicht von den deutschen Fans ausgebuht. Auch in den Zeitungsberichten war die übereinstimmende Meinung, Rocchigiani habe „in Würde verloren“ oder er sei „mutig und klug“ gewesen. Und die Zuschauer in Hannover haben ihm sogar für seine Entscheidung applaudiert. In Amerika hätten sie den Ring mit Bierdosen bombardiert. Ob das nun gerechtfertigt wäre oder nicht. Nur aus Prinzip.

Zu großen Teilen scheint der deutsche Boxboom auf Unwissenheit und Leichtgläubigkeit des Publikums zu beruhen. Nicht besser sind die Kommentatoren, die eher Cheerleader für die deutschen oder in Deutschland trainierten Boxer sind als scharfsichtige Analytiker. Das soll nicht heißen, dass es in Deutschland keine begabten Kämpfer (oder Kommentatoren) gibt. Es gibt sie. Aber sie haben wohl keine Chance.

Das hat damit zu tun, dass es in Deutschland keine verwurzelte Boxkultur gibt. Denn dazu fehlen hier die entscheidenden Voraussetzungen: Armut und Gyms (Boxhallen). Indien hat Armut, aber keine Boxhallen, Deutschland hat keine Armut, aber Boxhallen. Mexiko hat beides; England in gewissem Maße auch. Amerika schließlich hat Armut und Gyms im Überfluss. In jedem Viertel eines Gettos oder Barrios gibt es eine Boxhalle. Oder einen Jugendklub oder ein CVJM-Heim, das Boxkurse anbietet. Die Jungen lernen, sich auf der Straße zu verteidigen und ihre Wut zu lenken, sie lernen Selbstdisziplin und etwas aus ihrem Leben zu machen. Manchen gelingt es, Boxen zu ihrem Beruf zu machen. Ja, selbst wenn sie vom Pfad der Tugend abkommen, können sie die Kunst des Boxen immer noch im Gefängnis lernen. Überhaupt: Großstadtkinder lernen nicht Golf oder Tennis, sie lernen Boxen. Selbst die, denen man das überhaupt nicht zutraut: Als kleiner Junge trainierte Woody Allen aus Brooklyn für den amerikaweiten Boxwettbewerb, die „Golden Gloves“. Und er war gut.

Boxen ist nicht nur eine amerikanische Metapher für den Kampf auf dem Weg an die Spitze einer skrupellosen Wettbewerbsgesellschaft – es ist das Mittel selbst. Seit über hundert Jahren gehören die besten Boxer immer der Schicht an, die am unteren Ende der sozialen Skala steht. Tatsächlich kann man die Geschichte der amerikanischen Einwanderer nach den jeweiligen Champions einer Epoche schreiben. Alles begann mit den Iren. Obwohl es ein englisches Vermächtnis war, wurden Boxkämpfe von den irischen Amerikanern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aufgegriffen. Sullivan, Corbett und Dempsey waren unter den ersten großen Schwergewichts-Champions. Und von Anfang an hingen Rasse und Klasse zusammen. Obwohl oder vielleicht weil es großartige schwarze Boxer zu dieser Zeit gab, weigerten sich irischamerikanische und andere Champions oft, gegen sie anzutreten. Und so gab es dann von 1902 bis 1932 eine eigene schwarze Schwergewichtsmeisterschaft. (Einzig dem herausragenden Schwarzen Jack Johnson gelang es von 1908 bis 1915, unangefochten den Schwergewichtstitel zu halten.) Auf die irische Boxergeneration folgten in den 30er-Jahren die jüdischen Champions. Und mit der Migration der Schwarzen vor und während des Zweiten Weltkriegs aus dem Süden in die Industriegebiete im Norden (wo es Boxhallen gab) wurden in den 50ern die Namen der Champions wieder englisch (Charles, Walcott, Patterson, Robinson, Moore), obwohl die Farbe ihrer Haut alles andere als englisch war. In den 60ern und 70ern kam die Flut der spanischen Familiennamen, besonders in den leichteren Gewichtsklassen.

Schwarze und Latinos dominieren weiterhin den Boxkampf in Amerika. Und es ist kein Widerspruch, dass die ständig wachsende Gruppe der asiatischen Amerikaner überhaupt keine Gefahr für die amtierenden Champions darstellt: Sie haben sich eine bessere Bildung erworben und verdienen weitaus mehr als alle anderen ethnischen Minderheiten. Diese Erfolge bedauern sie wohl kaum. Und die Deutschen: Sie sollten das Fehlen der Boxkultur in ihrem Land ebenso wenig bedauern – und einfach akzeptieren. Denn der Tag, an dem es in Deutschland ein kritisches und verständiges Boxpublikum geben wird, wird der Tag sein, an dem nicht nur die Fernsehübertragung der Boxkämpfe, sondern die deutsche Gesellschaft insgesamt scharfsichtige Analytiker braucht.

Hinweis:Der Boxboom beruht auf Unwissenheit und Leichtgläubigkeit des deutschen Publikums