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: WLADIMIR KAMINER über Teamarbeit

KRIMINELLE AKTIVITÄTEN AN DER U-BAHN SCHÖNHAUSER ALLEE

Am U-Bahnhof Schönhauser Allee versammeln sich ständig verdächtige Personen. Sie sehen so aus, als ob sie gerade eine Straftat planen würden oder bereits eine begangen hätten und nun auf der Flucht seien. Sie laufen nervös hin und her, schauen ständig auf die Uhr und rauchen wirklich pausenlos. Viele sehen auch selbstmordverdächtig aus. Sie stehen am Rand des Bahnsteigs und beobachten aufmerksam die unter tödlichem Strom stehende Schiene.

Zum Glück kommt alle fünf Minuten ein Zug und entführt dieses scheinbar kriminelle Publikum von der Schönhauser Allee weg – ins Grüne: in Richtung Ruhleben. Dort brauchen sie nichts zu befürchten.

Auf diese Weise wird immer wieder eine beruhigende Bahnsteigökologie hergestellt. Ich benutze jeden Tag diese Linie und muss leider feststellen, dass diese harmonische Beziehung zwischen den Zügen und den Kriminellen nicht immer funktioniert. Manche steigen in den Zug gar nicht ein, und manche steigen aus dem Zug nie aus.Wie kann man sonst die Tatsache erklären, das ich drei Tage hintereinander zu den verschiedensten Tageszeiten jedesmal mit denselben vier Typen zusammen in einem Abteil hin und zurück fuhr?

Das Ganze sah aus wie eine dreitägige Theatervorstellung an der Volksbühne. Du kannst in die Kantine gehen, ein Bier trinken oder gar am nächsten Tag zurück kommen – die Schauspieler sind immer noch da.

Genau so war es auch im Zug. Den einen kenne ich bereits eine Weile – ein ganz harmloser. Das ist der Typ, der immer die Stationen nachplappert und „Zurückbleiben“ ruft. Der Arme hat sich irgendwann einmal eingebildet, er sei ein ehrenamtlicher BVG-Mitarbeiter, und muss nun den Passagieren helfen, indem er die unverständlichen Ansagen, die vom Band kommen, wiederholt. Manchmal kommentiert er auch auf unkonventionelle Weise den einen oder anderen Namen der jeweiligen U-Bahn-Station.

Mein zweiter ständiger Begleiter ist ein betrunkener Türke in einem schicken Ledermantel, der alle verspotten will.

Und dann noch ein kleines Mädchen mit einem riesengroßen Hund, das ständig mit der Leine um sich schlägt und „Sitz!“ schreit.

Schließlich gibt es noch den Obdachlosenzeitungverkäufer Martin, der besonders viel Wert darauf legt, das alle seinen Namen wissen. „Ich bin der Martin“, fängt er immer an, wenn ein neuer Fahrgast einsteigt, als ob das an der Sache irgendetwas ändern würde.

Manchmal denke ich, das Quartett arbeitet zusammen. Es ist ein klassisches Team. Nur, worauf sie hinaus wollen, ist bis jetzt noch unklar.

Der Türke verspottet alles und jeden, der Martin sammelt Geld, das Mädchen passt darauf auf, das sich keiner im Abteil bewegt, und der Verrückte informiert uns über den aktuellen Stand der Reiseroute. Sie sind ganz deutlich ein Team.

Manchmal improvisieren sie urplötzlich eine kleine Auseinandersetzung. Neulich nahm z.B. der Türke den Martin aufs Korn. Jedesmal, wenn der Zeitungsverkäufer zu reden anfing, wurde der Mann im Ledermantel laut und hänselte in seine Richtung. „Halt’s Maul!“, hustete schließlich das kleine Mädchen mit dem Hund den Türken an. „Meinst du, der macht es aus Spaß? Guck dir den Mann an, er hungert. Und du Arschloch hast kein Gewissen.“ Der Türke stand auf und ging zu dem Martin hin. „Wie viel haste von dem Zeug?“, fragte er ihn. „Fünfundzwanzig Stück“, antwortete Martin. Der Türke holte 50 Mark aus der Hosentasche und kaufte ihm den ganzen Stapel ab. Danach drehte er sich um und sagte laut: „Guten Tag, ich bin der Mehmet, und nun kriegt jeder eine Zeitung umsonst!“ Zum Glück musste ich gerade aussteigen.