Das Verfluchen den Priestern überlassen

Hans-Martin Blitz hat in seinem kundigen Buch Patriotismus und Nationalbewusstsein der Deutschen im 18. Jahrhundert analysiert und als Vorläufer des nationalistischen Diskurses im 20. Jahrhundert gedeutet. Das Zeitalter des Humanismus erscheint so in einem neuen Licht
von IRING FETSCHER

Geschichtsschreibung, die nicht nur antiquarische Kuriositäten aufbereitet, muss in jeder Generation neu konzipiert werden. Sie soll zu verstehen suchen, was vom Vergangenen nachwirkt. Niemand kann von der Erfahrung abstrahieren, die in der Zeit nach dem zu interpretierenden Geschehen passiert ist.

Hans-Martin Blitz, Jahrgang 1967, blickt auf das 18. Jahrhundert, geprägt von der jüngsten deutschen Geschichte, zurück. Ohne die chauvinistischen Exzesse der beiden Weltkriege und den rassistischen Imperialismus der Nazis würde er die Texte aus dem 18. Jahrhundert anders lesen, als er es getan hat. Das ist so weit nicht illegitim. Lange Zeit waren die Historiker der Meinung, deutscher Nationalismus und mehr oder minder demokratischer Patriotismus seien erst als Reaktion auf die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege erwacht. Inzwischen haben neuere Forschungen wie die von Herfried Münkler und Hans Grünberger nachgewiesen, wie früh ein deutsches Eigenbewusstsein unter der humanistischen Elite des 18. Jahrhunderts entstanden ist und welche große Rolle dabei die Stilisierung der „Hermannsschlacht“ mit ihrer Frontstellung gegen Rom gespielt hat.

Schon damals und in der abwertenden Stilisierung der „Welschen“ insbesondere der Franzosen definieren sich die Deutschen durch eine zum Teil polemische Abgrenzung von den „Anderen“. Deutsche Treue und Anständigkeit steht gegen französisches Wohlleben und Unzuverlässigkeit. Im Unterschied zu diesen historischen Neuentdeckungen ist aber das 18. Jahrhundert zuerst immer noch als das des weltbürgerlichen Humanismus und der fortschrittlichen Aufklärung angesehen worden. Hier setzt Hans-Martin Blitz’ Arbeit mit ihrer Kritik ein. Sie kann nachweisen, wie – nach der Unterbrechung des Dreißigjährigen Krieges – bald wieder ein antirömischer und antifranzösischer Diskurs einsetzt und neben dem bisher fast allein zur Kenntnis genommenen Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts Patriotismus und Anknüpfungspunkte des Nationalsozialismus in zahlreichen Texten nachweisbar sind.

Der Verfasser beschränkt seine Untersuchungen nicht auf literarische Arbeiten, sondern bezieht Predigten (vor allem während des „Siebenjährigen Krieges“), Flugschriften, Briefe und offizielle Texte in seine Recherche ein. Mit einer gewissen Vorliebe zitiert er dabei polemisch abwertende und aggressive Formulierungen von Dichtern und Pastoren wie die Bezeichnung der Franzosen als Heuschrecken, die das Land kahlfressen, und solche der Russen als unchristliche Barbaren und Gewälttäter, denen, nicht immer erwiesene, Schandtaten zugeschrieben werden. Zu den kritisch beleucheteten Texten gehören Johann Wilhelm Ludwig Gleims „Grenadierlieder“, die den Verfasser zum „Barden“ des Krieges machen sollten.

Auch wenn uns diese bellizistische Lyrik heute nur noch wenig anspricht, gibt ein Bericht von Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ zu Nachdenklichkeit Anlass! „Die Kriegslieder von Gleim ... behaupten deswegen einen so hohen Rang unter den deutschen Gedichten, weil sie mit und in der Tat entsprungen sind, und noch überdies, weil an ihnen die glückliche Form, als hätte sie ein Mitstreiter in den höchsten Augenblicken hervorgebracht, uns die vollkommenste Wirksamkeit empfinden lassen.“ So gelassen kann Blitz diese Lyrik heute nicht mehr beurteilen. Selbst Lessing, der als Herausgeber solcher Lyrik auf sein Einkommen sinnen musste, wird – trotz eines kritischen Schreibens, in dem er, bei aller Bewunderung für Gleim, feststellt, dass ihm „bei verschiedenen Stellen vor Entsetzen die Haare zu Berge gestanden haben“ – in den Umkreis der patriotischen Frühnationalen einbezogen. Dabei verschweigt der Autor, dass Lesing anmahnte, „der Grenadier solle das Verfluchen den Priestern überlassen“, „der Grenadier tue sich selbst Unrecht, wenn er sich alles für erlaubt halten will, was einem Lange (dem Pastor) erlaubt ist“ (14. 2. 1759).

Nicht viel anders ist die Präsentation von Friedrich Carl von Moser, der 1765 sich für einen Reichspatriotismus engagiert und die Selbstzerfleischung der deutschen Territorialstaaten anprangert. Es trifft zwar zu, dass Moser die „Nationalgeist-Debatte“ ausgelöst und damit einen deutschen Identitätsdiskurs unabhängig vom Reich eingeleitet hat, aber die Person Mosers wird auf diese Weise sehr einseitig beleuchtet. Ich habe aus Neugier eine andere Schrift dieses Publizisten studiert, seine 1761 veröffentlichten „Beherzigungen“, und darin vor allem große Bewunderung für die britische Verfassung und für zeitgenössische Franzosen – nicht nur Montesquieu, sondern ebenso Voltaire, den Abbé de St. Pierre und Mirabeau gefunden. In einem Überblick über die damaligen Staaten Europas stellt von Moser sie in eine Rangordnung hinsichtlich der Verwirklichung von „Freiheit zu Denken, zu Reden und zu Schreiben“ sowie „politische Freiheit“. England steht natürlich an der Spitze, gefolgt von Schweden und der Schweiz. Am unteren Ende: Italien und Deutschland. Selbst das absolutistische Frankreich erhält noch eine bessere Note, weil dort die „Parlamente“ (der selbstständigen höchsten Gerichte) und selbstbewussten Minister die Amtsführung des Königs mutig kritisieren. Wer als einfacher Bürger seine Regierung kritisiert, wird in England als Patriot gefeiert, kommt in Frankreich in die Bastille und wird in deutschen Staaten des Landes verwiesen.

Blitz’ unterschwellig harsches Urteil über den frühen deutschen Patrioten und Nationalbewussten würde wohl milder ausfallen, wenn der Verfasser die Tatsache berücksichtigt hätte, dass Frankreich und England schon längst geschlossene Nationalstaaten waren, während deutsche Bildungsbürger noch auf der Suche nach einem künftigen Gemeinwesen waren, dessen Grenzen keiner kannte. Die polemische Abgrenzung von Franzosen und Russen lässt sich aus dieser Lage besser verstehen. Im Übrigen sollte man bei der Preußenbegeisterung während des Siebenjährigen Krieges nicht vergessen, dass Preußen unter Friedrich II. der bei weitem modernste Teilstaat des Deutschen Reiches war. Unter anderem wurde dort schon 1740 bis 1754 die Folter abgeschafft.

Auch wenn der Verfasser seine kritische Übersicht da und dort relativiert, wird deutlich, dass er eine Kontinuität der Entwicklung über das 18. Jahrhundert hinweg zum patriotischen Chauvinismus der so genannten Befreiungskriege und der folgenden Epochen bis zum Nationalsozialismus unterstellt. Trotz seiner zu teleologischen Deutung ist Hans-Martin Blitz’ Studie eine ungemein lehrreiche und anschauliche Ergänzung unseres Bildes der Mentalitätsgeschichte des deutschen nationalen Selbstverständnisses. Man vergisst bei der Lektüre des Buches, dass es sich um eine Dissertation handelt – wenngleich sie viel zu lang geraten ist.

Hans-Martin Blitz: „Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrundert“. Hamburger Edition, 2000, 417 Seiten, geb., 58 DM

Hinweise: Durch die Abwertung der Franzosen definierten sich die DeutschenPreußen unter Friedrich II. war der modernste Teil des Deutschen Reiches