Keinesfalls den Teletubbies zurückwinken

Unter Schmerzen hat die Jury zehn Stücke zum 37. Theatertreffen nach Berlin geladen und ist, ach, trotzdem mit der Auswahl unzufrieden. Die Theatermacher leiden indes am Bürger und der unerreichten Subversivkraft von Computerviren. Welch hübscher Festivalauftakt!

von CHRISTIANE KÜHL

Man muss tiefes Mitleid mit ihnen empfinden. Schon der gemeine Theatergänger ist zu ja bedauern angesichts der Enttäuschung, die er ein ums andere Mal beim Bühnenbesuch einstecken muss. Aber die Kritiker trifft es besonders hart, allen voran die Jurymitglieder zur Auswahl des jährlichen Theatertreffens: 200 Inszenierungen im deutschsprachigen Raum mussten sie sich anschauen, um zehn nach Berlin zu laden, „Theaterreisen bis zur Erschöpfung und über die Erschöpfung hinaus“, wie Ulrike Kahle dem ungläubigen Leser im Programmheft der diesjährigen Festspiele glaubhaft versichert. Die Fernsehjournalistin ist eine von fünf Juroren, die neben Benjamin Henrichs (Süddeutsche Zeitung), Andreas Hillger (Mitteldeutsche Zeitung), Christine Richard (Basler Zeitung) und Peter Iden (Frankfurter Rundschau) für das Programm des nunmehr 37. Theatertreffens verantwortlich ist. Das geht nur unter Schmerzen.

Am schlimmsten traf es Letztgenannten, der es am Ende nicht einmal verhindern konnte, dass Stefan Bachmanns „Jeff Koons“ kommen durfte. Nicht ein einziges positives Wort fand Iden zu den geladenen Inszenierungen, all seinen Platz im Programmheft nutzte er, um dem geneigten Kunstfreund zu versichern, dass nicht nur der Künstler Koons „eine Falschmeldung von gestern“ sei, sondern auch der Autor Rainald Goetz ein „merklich verbrauchter Effekthascher“, ganz zu schweigen von Regisseur Bachmann, den er „ohne Begriff für die Konstellation des Dramas, für den Konflikt oder die Verständigung, für Menschen“ nennt. Dass die Produktion des Deutschen Schauspielhauses aus Hamburg an die Spree reisen durfte, muss ihn in seiner Kritikereitelkeit zutiefst verletzt haben, definiert sich die Theatershow doch über negatives Ausschlussverfahren. Präsentiert wird – so Ex-Juror C. Bernd Sucher –, „was sich nicht mit einer Mehrheit verhindern ließ“. Als nun am Freitag zur Eröffnung des Festivals durch Joachim Schlömers Choreografie „La guerra d'Amore“ in großen Lettern „Es ist eine elende Geschichte, doch sie ist wahr“ über der Bühne des Schiller Theaters prangte, wusste denn auch jeder, was gemeint ist.

Doch nicht nur die Kritiker, auch die Künstler leiden. Vielleicht war dies der Grund, weshalb Frank Castorf, dessen „Dämonen“-Inszenierung zeitgleich zu „La guerra“ in der Volksbühne eröffnete, sich nicht einmal blicken ließ. Er erschien erst Samstag auf dem Festivalgelände, um gemeinsam mit seinem Schauspieler Henry Hübchen den mit 30.000 Mark dotierten Theaterpreis Berlin entgegenzunehmen. Sonntag war dann zu erfahren, woran Theatermacher heute so knabbern – natürlich am wirklichen Leben. Der Alexander Verlag stellte die Textsammlung „Von der Unverschämtheit, Theater für ein Medium der Zukunft zu halten“ vor, und sowohl Elisabeth Schweeger, künftige Intendantin des Schauspiels Frankfurt, als auch Carl Hegemann, Dramaturg der Berliner Volksbühne, sprachen blass vor Neid vom „ILOVEYOU“-Virus. Welch dramaturgischer Geniestreich, den Killer mit Liebesbotschaft ins Netz zu schicken! Subversive Guerilla von einer Schlagkraft, von der das Theater nur träumen kann!

Am selben Abend, während die Nation die mediale Hinrichtung von Alex zelebrierte, diskutierten Stefan Bachmann (Theater Basel), Barbara Mundel (Luzerner Theater) und Thomas Ostermeier (Schaubühne Berlin) relativ fruchtlos den Weg „Vom Manifest zum Realismus“. Bei allem Willen zur Kunst darf der Bürger nicht zu sehr verärgert werden, war aus der Schweiz zu erfahren. Ein Sprachrohr braucht der Sprachlose, drängte Ostermeier, der näher am Leben als der Kunst werkeln will, „Big Brother“ jedoch noch nie gesehen hat. Realismus: unbedingt! Aber der Realismus der winkenden Teletubbies interessiere ihn einen Dreck. Ob er zumindest die je geschaut hat, war nicht zu erfahren. Ein Herr aus dem Publikum fragte, was eigentlich an ihren Manifesten neu sei. Wo der Raum für Poesie bleibe, frug eine Dame. Effekthascher Goetz machte sich selig grinsend in der ersten Reihe mehr Notizen als die berichtende Kritikerin. Das Theatertreffen ist eröffnet.