Ohne reichen Gönner

Im Land der Griots, der traditionellen Musikerkaste Westafrikas, stehen die Zeichen auf Umbruch: Die Sängerin und Komponistin Rokia Traoré revolutioniert die Musikszene Malis

von JAY RUTLEDGE

Nach ein paar Tagen in Malis Hauptstadt Bamako versteht man, warum manche Leute hier lieber nachts arbeiten und tagsüber schlafen: Es ist zu laut, zu schmutzig, zu heiß, und über allem hängt die Dunstglocke, die der Stadt den Atem nimmt. In Rokia Traorés verbeultem kleinen Peugeot quälen wir uns durch den chaotischen Verkehr Bamakos, umrunden ein paar Schlaglöcher, fahren eine kurze sandige Piste entlang und landen vor Rokias grauen, unscheinbaren Haus. Rokia Traoré ist geschafft. Drei Tage läuft schon die Konferenz der „Künstler gegen die Piraterie“. Eine Woche zuvor demonstrierten zum ersten Mal in der Geschichte Malis Musiker gemeinsam in den Straßen Bamakos für den Schutz ihres geistigen Eigentums und verbrannten öffentlich 16.000 raubkopierte Kassetten.

In der Heimat der Griots, der traditionellen Musikerkaste Westafrikas, ist ein legal funktionierendes Musikbusiness zu einer Frage des Überlebens geworden. Auch die Hüter der Tradition, deren Lieder noch heute bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, bestreiten ihren Lebensunterhalt längst nicht mehr nur mit traditionellen Hochzeiten oder Taufen. Doch obwohl alle Zeichen auf Umbruch stehen, sind in Mali die wenigsten dafür gewappnet. Denn anders als die westafrikanischen Metropolen Dakar oder Abidjan ist Bamako, die Hauptstadt Malis, bis heute ein großes Dorf geblieben. 70 Prozent der Erwachsenen sind Analphabeten, die Musiker keine Ausnahme – selbst die großen Stars Malis wie Oumou Sangaré oder Amy Koita können nicht lesen, Französisch sprechen sie nur gebrochen.

Die Diplomatentochter brachte den Stein ins Rollen

So wundert es nicht, dass gerade Rokia Traoré, eine gebildete, 26-jährige Diplomatentochter, mit einem Brief an den Premierminister den Stein ins Rollen brachte. Wer Rokia Traorés zarte akustische Musik hört, den rauen Melodien der N’goni-Laute folgt, die von sparsamen rhythmischen Figuren des Balafons und einer Kalebasse begleitet werden, ahnt nicht, dass diese Musik in Mali revolutionär ist. Nur selten tritt Malis neuer Star in ihrer Heimat auf – und wenn, dann im französischen Kulturinstitut, weil es dort die einzige Musikanlage gibt, die den filigranen Klängen gerecht wird. Die junge Frau ist nicht arrogant – sie will damit nur ihren Respekt vor der traditionellen Musik ihres Landes zum Ausdruck bringen.

Der Unterschied zwischen Rokia Traorés einfachem Haus und der Villa von Kandia Kouyaté könnte nicht größer sein. Der Salon der derzeit wohl populärsten Griot-Sängerin Malis gleicht einer Art afrikanischem Neuschwanstein: barocke, vergoldete Stühle, kitschige Glasvasen mit Plastikrosen und an den Wänden goldgerahmte Spiegel. Das Haus mitsamt der Einrichtung hat ihr einer ihrer Gönner geschenkt. Kein Jatigui, wie die traditionellen Gönnerfamilien der Griots heißen, sondern ein Parvenü. „Ein Jatigui muss für seinen Griot sorgen, muss ihm Essen geben, muss ihn unterbringen“, erklärt die Diva pragmatisch, „aber kaum einer von ihnen übernimmt heutzutage noch seine Verantwortung – da muss sich ein Griot eben einen neuen Patron suchen.“ Viele haben das getan. Kandias größter Gönner war Babani Sissoko. Er schenkte ihr Autos, große Summen Geld, einmal sogar ein Privatflugzeug.

Die Geschichte Babani Sissokos ist einer dieser unglaublichen modernen afrikanischen Mythen: In Dubai lernte er einen reichen Geschäftsmann kennen, der Milliarden mit Öl verdient hatte. Mit einer Unsumme an Geld kam Babani Sissoko zurück nach Mali, kaufte sich erst mal mehrere Jumbojets, schmiss Partys. Irgendwann brach das Kartenhaus zusammen, Babani Sissoko wurde von Interpol gesucht, die Flugzeuge beschlagnahmt. Heute lebt er arm als Bürgermeister in seinem Heimatdorf, nur noch ein riesiger Hotelrohbau am Ufer des Niger erinnert an ihn. Kandia Kouyaté versucht eine Rechtfertigung: „Ich bin zwar traditionell nicht Babanis Griot, aber er war wie ein Bruder für mich, wir sind zusammen aufgewachsen. Schau dir das Haus hier an – sollte ich ihm nicht dankbar dafür sein?“

Rokia Traoré verzieht das Gesicht – sie kennt solche Geschichten. „Statt irgendwelchen Neureichen schönzutun“, erklärt sie knapp und bestimmt, „finde ich es wichtiger, mich in meinen Songs für die Rechte der Frauen einzusetzen.“ Auch musikalisch ist ihr vieles, was die Griots machen, zu wenig originell. „Sie wärmen die immer gleichen traditionellen Melodien auf“, befindet Rokia Traoré. Das Rezept wird beibehalten, solange sich die Kassetten verkaufen. „Ich habe viel in Algerien, Saudi-Arabien und Belgien gelebt,“ erklärt die Diplomatentochter, „und überall, wo wir waren, hatte mein Vater immer Kassetten mit traditioneller Musik aus Mali dabei.“ Die Klänge gingen ihr nicht aus dem Kopf. Irgendwann schmiss sie dann ihr Soziologiestudium in Brüssel hin und zog zurück nach Mali, um sich an einer neuen, akustischen Fusion unterschiedlicher Musikstile Malis zu versuchen.

Für die junge Frau war es damals nicht einfach, ihre männlichen Musiker überhaupt dazu zu bewegen, dieses komische Experiment mitzumachen: Keiner verstand so recht, wieso jemand ein Balafon aus Kénédougou mit einem N’Goni, dem Instrument der Griots, verbinden wollte. Zum einen, weil die Harmonien der beiden Instrumente sehr unterschiedlich sind. Zum anderen, weil Musiker in Mali nicht gewöhnt sind, die eingefahrenen Bahnen zu verlassen. Anfangs wollte deshalb niemand so viel Zeit und Energie investieren, um ein neues Programm zu erarbeiten. Mit Idealismus ging da nichts, mit ihrem Studienstipendium bezahlte Rokia Traoré damals die Proben mit den Musikern.

Nicht nur ihre Arbeitsweise ist anders – auch die Art, wie sie mit ihren Musikern umgeht, ist in Mali unüblich. „Ein Gitarrist, der dir hier einen Song schreibt“, erzählt Rokia Traoré, „bekommt vielleicht noch ein paar extra Zigaretten.“ Als Autor und Komponist trägt sich dann meist der Star der Gruppe ein; manchmal auch der Produzent oder der Manager, der in seinem Leben noch keine Gitarre in der Hand hatte.

Philippe Berthier, Chef der größten, zudem legalen Plattenfirma Malis, Mali K 7, kennt diese Probleme. Er achtet darauf, dass bei seinen Produktionen jeder seine Rechte bekommt, doch gibt es immer wieder Streit mit Stars oder ihren Managern, denen das nicht passt. An der Zusammenarbeit mit Griots ist Mali K 7 deshalb schon seit geraumer Zeit die Lust vergangen: Sie können sich am wenigsten mit den modernen Regeln anfreunden. „Sie sehen in mir den reichen Patron. Viele verstehen nicht, dass sie hier einfach einen Vertrag haben.“ Probleme tauchen auch bei den Texten auf. Ein nicht unerheblicher Nebenverdienst moderner Griots ist es, Preislieder für reiche Mäzene zu singen. Pro Preislied auf der neuen Kassette liegt der gängige Satz bei einem neuen Mercedes. Aber welche Plattenfirma möchte schon gerne Preislieder auf reiche Geschäftsmänner veröffentlichen?

Unter den jungen Musikern in Mali haben Rokia Traorés Ansichten großen Eindruck hinterlassen. „Sängerinnen wie Mamou Sidibé oder Oumou Soumaré denken heutzutage viel mehr an eine professionelle Karriere und an ein gutes Album“, erzählt Rokia ein wenig stolz, „sie wissen, dass für eine internationale Karriere vor allem die Musik selbst wichtig ist. Ihre Vorbilder sind ausgebildete Musiker wie Habib Koité, die mit ihrer Band hart arbeiten, und sie experimentieren mit neuen Rhythmen und Instrumenten.“

Auch das Institut des Arts wird in Mali immer wichtiger. Neu ist, dass sich jetzt sogar die ersten jungen Griot-Sängerinnen dort eingeschrieben haben. Statt sich auf traditionellen Hochzeiten hochzudienen, interessieren sie sich heute genauso für moderne Atemtechniken, Arrangements und ihre Rechte – all jene Sachen, die man als professioneller Musiker wissen muss.

Musikalisch folgen viele Musiker Rokia Traorés Beispiel und verwenden statt Schlagzeug und Bass lieber traditionelle Instrumente wie Kalebasse oder Djembe. Der Musik zuliebe verzichten sie auf äußerliche Modernität – in einem Land, in dem es nur zehn wirklich funktionierende Drumsets gibt, ist auch die Zahl guter Schlagzeuger dünn gesät.

Der Wandel schlägt sich auch in den Hörgewohnheiten nieder. „Vor ein paar Jahren“, erzählt Philippe Berthier, „hat irgendjemand auf dem Land eine Aufnahme mit einem alten Kassettenrekorder gemacht, die Qualität war grauenvoll – aber wir haben das Tape 40.000 Mal verkauft, weil die Leute einfach nur auf den Text gehört haben. Heute würde so etwas wahrscheinlich nicht mehr passieren. Schaut man sich die Verkaufszahlen an, fällt auf, dass auch die Leute in Mali sich jetzt mehr für die Musik selbst interessieren. Da schneiden die Griots nicht mehr so gut ab.“

Neue Fusion aus Tradition und elektronischen Beats

Bester Indikator hierfür ist der Erfolg von Newcomern wie Techno Issa oder Mamou Sidibé, die mit einer völlig neuen Fusion aus Tradition und programmierten elektronischen Beats unglaublich eingeschlagen haben. Oder Rokia Traoré. Als sie kürzlich ihr neues Album „Wanita“ im französischen Kulturinstitut in Bamako vorstellte, überwogen im Publikum nicht wie sonst an diesem Ort die Europäer, sondern Leute aus Mali.

Nach dem Auftritt ist Rokia Traoré fast ein wenig überrascht über die große Begeisterung ihres Publikums. Es scheint, als sehnen sich auch andere nach einem Ausbruch aus den verkrusteten traditionellen Strukturen und Abhängigkeiten – nach einem Aufbruch in ein neues Mali, in dem nicht das Geld der Piraten und Patrons regiert, sondern die Kreativität der Künstler.

Kandia Kouyaté: „Kita Kan“ (Stern’s/TIS), Rokia Traoré: „Wanita“ (Label Bleu/EFA), Habib Koité: „Maya“ (Label Bleu/EFA), Issa Bagayogo: „Sya“ (Cobalt/EFA). Rokia Traoré auf Tour: 14. 5. München, 16. 5. Wien, 17. 5. Schorndorf, 18. 5. Frankfurt a. M., 19. 5. Bochum, 20. 5. Berlin (Pfefferberg), 21. 5. Köln, 23. 5. Hamburg