In Afrika droht die UNO zu scheitern

In Sierra Leone steht ein Politikkonzept für den ganzen Kontinent auf dem Spiel

von DOMINIC JOHNSON

Sierra Leones ehemalige Kolonialmacht Großbritannien und die sierraleonische Rebellenbewegung RUF (Revolutionäre Vereinigte Front) sind sich Spinnefeind, aber in einem einig: Sie halten wenig von der Unamsil, der bedrängten UN-Mission in dem westafrikanischen Land. Während die RUF gestern weiterhin etwa 500 Angehörige der Blauhelmtruppe gefangenhielt, entsandte Großbritannien 800 Soldaten in die Region. Nicht etwa, um die UNO zu verstärken, sondern um Briten und andere Ausländer evakuieren zu können. Der derzeit größten UN-Mission der Welt traut London das nicht zu.

Die Unamsil bietet das Bild einer Mission in Auflösung. Sie weiß nicht einmal, wo die von der RUF gefangenen Soldaten sind und hat nun Libyen als Freund der Rebellen um Hilfe bitten müssen. In der Hauptstadt Freetown haben Blauhelmsoldaten Verteidigungsstellungen errichtet, während Mitarbeiter internationaler Organisationen die wenigen Linienflüge aus der Stadt belegen.

„Wie die Hauptstadt angreifen?Wir sind doch alle schon da!“

Die Falschmeldungen der Unamsil am Wochenende über einen Vormarsch der Rebellen auf Freetown trugen nicht zur Imageverbesserung bei. Sierra Leones Regierung, die eigentlich als Gegner der RUF auf UN-Seite stehen müsste, schimpfte über „Panikmache“, während die RUF sich über die Meldung unverblümt lustig machte. „Wie können wir Freetown angreifen?“, sagte ihr Sprecher. „Wir sind doch alle schon da.“

Die Konfrontation zwischen Rebellen und Blauhelmen in Sierra Leone hat die UNO in eine tiefe Sinnkrise gestürzt, nachdem sie gerade begonnen hatte, über eine aktivere Anteilnahme an der Lösung von Afrikas Problemen nachzudenken. Ein „Monat Afrikas“ im UN-Sicherheitsrat im Januar 2000 hatte die großen Problembereiche des Kontinents auf die Tagesordnung gesetzt: Die schwelende Dauerkrise in der Region der Großen Seen, die ungehemmte Ausbreitung von Aids, die andauernden Flüchtlingsbewegungen. Richard Holbrooke, der neue UN-Botschafter der USA, erklärte die Lösung des Kongo-Krieges zur nächsten großen Herausforderung der internationalen Staatengemeinschaft nach Kosovo und Osttimor. US-Medien wie CNN und die Washington Post widmeten sich dem Wiederaufbau des kriegszerstörten Sierra Leone mit seiner traumatisierten Bevölkerung und fragten, wieso die Bürger Prištinas mehr Wertschätzung erhielten als die Freetowns. Und als vor kurzem die Routineappelle der UN-Hilfsorganisationen zur Versorgung von Dürreopfern in Äthiopien ergingen, war das internationale Echo so groß wie seit fünfzehn Jahren nicht mehr.

Aber mehr Aufmerksamkeit für Afrika heißt noch nicht mehr Engagement und Effizienz. Sierra Leone mag mit 8.300 Soldaten die größte UN-Mission der Welt haben, die ein friedenserzwingendes Mandat unter Kapitel 7 der UN-Charta hat und damit kämpfen darf. Aber sie ist ein zahnloser Tiger.

Die politische Grundlage der UN-Mission ist großteils Fiktion

Die mächtigen Länder der Welt halten sich von ihr fern – Anfragen von Kofi Annan an die USA, Frankreich und Großbritannien zur Bereitstellung von „Schnellen Eingreiftruppen“ wurden nach sierraleonischen Presseberichten letzte Woche abschlägig beschieden. Stattdessen werkeln Soldaten aus Afrika und Asien, viele davon aus Armeen ohne Kampferfahrung oder modernes Rüstungsmaterial, nebeneinander her unter Kommando eines indischen Generals, der entgegen den Bestimmungen seines Mandats unablässig betont, er wolle keinerlei Gewalt anwenden. Größter Leidtragender des Kidnappings durch die RUF ist mit mehreren hundert gefangenen Soldaten Sambia – ein Land, dessen Militärs jüngst zugaben, dass sie keinen Krieg bestehen könnten.

Die politische Grundlage, auf der die Unamsil aufbaut, ist in weiten Teilen Fiktion. Die Regierung von Präsident Ahmed Tejan Kabbah hat gemäß dem gültigen Friedensabkommen von Juli 1999 den Kriegsgegner RUF in die Regierung aufgenommen – aber RUF-Führer Foday Sankoh, theoretisch Vizepräsident von Sierra Leone, unterliegt immer noch einer Reihe von 1997 verhängten UN-Sanktionen wie beispielsweise einem Reiseverbot. Anfang 2001 sollen UN-überwachte Wahlen stattfinden und bereits heute gründet sich in der Hauptstadt Partei um Partei – aber noch immer ist die Hälfte der Bevölkerung Sierra Leones vertrieben oder geflohen, so dass niemand weiß, welche Wähler wo leben.

Das Dilemma der Unamsil liegt darin, dass sie nicht weiß, ob sie Kriegs- oder Friedenstruppe ist. Sie soll zwar den Frieden erzwingen können, aber sie hat nur die Hälfte der Stärke und einen Bruchteil der Kampfkraft der vorherigen westafrikanischen Eingreiftruppe „Ecomog“, eine 1990 zum Einsatz in Liberia geschaffene Kreatur nigerianischer Generäle und gleichzeitig die erste multinationale afrikanische Interventionstruppe mit UN-Segen. Anders als die „Ecomog“ ist die Unamsil nicht als Kriegspartei auf der Seite von Präsident Kabbah konzipiert, sondern sie soll den Anfang eines gesellschaftlichen Versöhnungs- und Wiederaufbauprozesses einleiten.

Aber wo noch kein Frieden herrscht, fließt auch kein Geld. So hat der Internationale Währungsfonds nach 20 Millionen Dollar 1999 für kommenden Juli einen Kredit von 14 Millionen Dollar in Aussicht gestellt, „wenn alles gut geht“.

Nicht einmal das Kernstück des UN-Mandats für Sierra Leone – die Entwaffnung und Reintegration von rund 45.000 Kämpfern unterschiedlicher Armeen – ist finanziell gesichert. UNHCR-Vize Frederick Barton bezifferte den Geldbedarf dafür für dieses Jahr kürzlich auf 30 Millionen Dollar. Die sind nicht gedeckt. Im Land wird ohnehin kritisiert, dass Entwaffnungsprogramme ohne Geld für Wiederaufbau nur das Konfliktpotential verstärken, wenn sich verarmte Opfer an schutzlosen Tätern rächen wollen.

UN-Generalsekretär Kofi Annan zieht Parallelen zu Somalia

Kaum jemand in Sierra Leone rechnet damit, dass die Anzahl der Entwaffnungswiligen – bisher rund die Hälfte der bekannten Kämpfer – noch nennenswert steigen. Unter Waffen bleiben die Überzeugungstäter. Gegen die kann eine UN-Truppe wenig ausrichten. Das erfuhr die UNO 1992–93 in Somalia im Umgang mit den Milizen von General Farah Aidid, und das bewog sie dazu, weder im Jahr 1994 den Völkermordmilizen in Ruanda noch nach 1996 den Unita-Rebellen in Angola militärisch entgegenzutreten. Ein Krieg der Unamsil gegen die RUF wäre wenig erfolgversprechend – schon die Ecomog scheiterte an den Buschrebellen.

Nach Ansicht von Adriaan Verheul, Afrika-Abteilungsleiter der UN-Abteilung für Friedensmissionen, wird das Schicksal der Unamsil über die Zukunft von UN-Missionen weltweit entscheiden. Kofi Annan zog letzte Woche in Paris eine pessimistisch stimmende Parallele: Genauso wie das Scheitern der UNO in Somalia dazu führte, dass die Weltgemeinschaft beim beginnenden Völkermord in Ruanda trotz Präsenz einer UN-Truppe untätig blieb, könne heute die geplante UN-Mission in der Demokratischen Republik Kongo Opfer einer neuen Zurückhaltung der Welt nach einem Debakel in Sierra Leone werden. Im Kongo sollen 5.000 Soldaten 500 Beobachter schützen, die einen fragilen Waffenstillstand tief im kongolesischen Dschungel überwachen. Unter anderem haben Nigeria und Südafrika Truppen zugesagt, und Richard Holbrooke lockte letzte Woche Kongos Präsident Laurent Kabila die Erlaubnis zu einer UN-Stationierung ab. Doch der Kongo-Krieg ist viel komplexer als der in Sierra Leone; mächtige afrikanische Staaten sind involviert, und das Land ist weitaus schwerer zu beherrschen.

Für Sierra Leone ist im Falle eines schmachvollen UN-Abzuges nur ein neuer Krieg denkbar, wobei ein Eingreifen der jetzt entsandten britischen Truppen auf Regierungsseite nicht ausgeschlossen werden kann. Großbritannien sowie die USA haben ein großes Interesse daran, RUF-Führer Foday Sankoh politisch und militärisch das Genick zu brechen. Sie halten ihn und sein Umfeld für ein Zentrum des illegalen internationalen Diamantenhandels, den die USA als ebenso gefährlich einschätzen wie den internationalen Drogenhandel und dessen Ausrottung die US-Außenministerin Madeleine Albright im Oktober 1999 bei einem Besuch in Sierra Leone zu einer Priorität ihrer Afrikapolitik erklärte.

Sankoh droht nun das Schicksal von Angolas Rebellenchef Jonas Savimbi: zum Outlaw erklärt und isoliert zu werden. Damit wäre das geltende Friedensabkommen für Sierra Leone nur noch Makulatur, und die gesamtes Region bis auf weiteres Kriegsschauplatz.