: Auf die kölsche Art
Sein Jahrhundert: Günter Grass' Episodenroman überzeugt als Theater-Inszenierung nicht ■ Von Annette Stiekele
Bis heute mischt er die Tinte mit der Spucke, kaut er zähfaserige Satzgefüge zu fügsamem Brei, brabbelt in schönster Schreibeinsamkeit vor sich hin und lässt nur zu Papier kommen, was auch gesprochen seine wechselnde Tonlage gefunden, Hall und Echo bewiesen hat. So Günter Grass über Günter Grass anlässlich der Entgegennahme des Literaturnobelpreises.
Was sein jüngstes, stark persönlich gefärbtes Werk „Mein Jahrhundert“ angeht, hätte er die Schreibeinsamkeit durchaus einmal verlassen sollen. Gewiss, er hat immer schon anderen gerne in die Suppe gespuckt und dafür einiges einstecken müssen, am Ende aber doch den langersehnten Preis erhalten. Der etwas spröde und episodisch aneinandergereihte Roman „Mein Jahrhundert“ vom Juli 1999 zählt allerdings mit Sicherheit nicht zu seinen starken Werken, weshalb die Bühnenfassung des Docu-Drama-Spezialisten Horst Königstein als letzte Premiere dieser Spielzeit im Thalia es schwer hat.
Das Buch beschreibt das bewegte Panorama eines ganzen Jahrhunderts in einhundert Kurzgeschichten aus der persönlichen Sichtweise der Mutter des Autors, angereichert mit bekannten Details der historischen Ereignisgeschichte. Fernsehregisseur Horst Königstein ist ein Mann der Bilder und hat das Buch zunächst weise auf eine lose Folge von rund dreißig Szenen geschrumpft. Was jedoch auf der Bühne zu erleben ist, verharrt in reich bebildertem geschichtlichen Anschauungsunterricht. Passend dazu scheint die jeweilige Jahreszahl auf einem Monitor auf.
Zu Beginn betritt ein Alter Ego Grass' die Bühne, ein Erzähler-Autor (Michael Altmann), angetan mit langem dunklen Mantel, und fabuliert schwermütig über das Schreiberschicksal. Fiktiver Ort: eine Autobahn-Raststätte zur Nachtzeit, in der sich verschiedene Gäste in knallbunten Phantasiekostümen von Fred Fenner tummeln und in unterschiedlichste Rollen schlüpfen. Rolf Glittenbergs lange knallorange gekachelte 70er-Jahre-Theke mit neun Fernsehern und umstellt von 60er-Jahre-Stühlen wirkt poppig-bunt, jedoch inhaltsleer.
Am Horizont scheint der Schatten eines Panzers auf. Dann schiebt sich das Jahrhundert gewaltig nach vorne. 1901 wird die Wuppertaler Schwebebahn eröffnet – und da sieht man sie auch schon multimedial über die aufgehängten neuen Bildschirme flimmern. 1914 trifft der pazifistische Erich Maria Remarque (Christoph Bantzer) auf den ordenbehängten Käfersammler Ernst Jünger (Siegfried W. Kernen), der vom „Kampf als inneres Erlebnis“ schwärmt. All das ist hinreichend bekannt. Kohl und Mitterand reichen sich die Hände, unterbrochen von einem Schwenk zur Berliner Loveparade.
Königstein weiß sich einig mit dem vor Kapitalismus und Kriegsgetümmel mahnenden Grass. Die Ereignisse werden mal anekdotisch, mit netten bunten Einlagen, wie den drei rappenden Soap-Darstellern, meist aber stereotyp aufbereitet, vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis zur DDR. Terroristen werden verraten, Käfermodelle gezählt, Kessler-Zwillinge angeschwärmt, die Mauer erbaut und wieder gefällt. Über allem schwebt der schelmisch reflektierende Grasssche Sprachduktus.
Das Ensemble schlägt sich tapfer, allen voran Hildegard Schmahl als eisenharte Abwicklerin Birgit Breuel und Christoph Bantzer in diversen Autorenrollen. Doch das Ergebnis bleibt fades Moralisieren über längst anderswo besser behandelte Themen. Da kann auch Horst Königsteins Regie wenig retten. Zuletzt hatte er mit der ganz passablen deutschen Erstaufführung von Arthur Millers „Mr. Peter's Connections“ in den Hamburger Kammerspielen mehr Glück.
Literaturnobelpreisträger Grass und Thalia-Intendant Jürgen Flimm verbindet seit vielen Jahren eine enge Freundschaft. Beide eint dieselbe politische Gesinnung, und der Wille zur politischen Stellungnahme. Flimm wollte zu seinem Abschied nach 15 Jahren dem Pub-likum und seinem Freund mit dieser letzten großen Premiere ein besonderes Abschiedsgeschenk bescheren. Ein großer Theaterabend wurde es nicht, eher ein warmer Händedruck unter Freunden. Ganz auf die kölsche Art.
weitere Vorstellungen: 20. Mai, 2., 3. und 10. Juni, 20 Uhr, 3. Juni, 15 Uhr, 4. Juni, 19 Uhr, Thalia-Theater
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