Dämmerung des Willens

Wenn Hitler den Führer guckt: Alexander Sokurows „Moloch“ erhebt trotz historisch verbürgter Namen und Dokumentarmaterials keinen Anspruch auf Authentizität. Ein russischer Film zum deutschen Thema, der das Verhältnis Adolf/Eva mit einfachem SM-Muster erklärt
von OKSANA BULGAKOWA

Der Schatten Andrej Tarkowskis wandelt, nicht erst seit dem Tod des Meisters, durch den russischen Film. Der bekannteste Vertreter dieser Post-Tarkowski-Welle ist Alexander Sokurow. So verschieden die Sujets seiner Filme auch sein mögen – ihre Stilistik weist sehr konstante Merkmale auf. Einerseits kann man Sokurows Filme als „kulturologische Phänomene“ deuten – sie sind vollgespickt mit Zitaten, Zeichen aus dem Kulturvorrat, Symbolen, die dem Zuschauer eine bestimmte Bereitschaft abverlangen, sich in diese fast quizähnlichen Bilderrätsel hineinzuversetzen. Andererseits setzt der Regisseur voll auf die immanente Natur des Films: Licht und Oberfächenbeschaffenheit, Experimente mit der erstarrten Bewegung wie die langsamen Schwenks der Kamera oder die Veränderung der Bildfrequenz.

Doch was Sokurow aus der inzwischen mittleren Generation des postsowjetischens Film heraushebt, ist nicht nur seine betonte Aufmerksamkeit gegenüber der Filmsprache, sondern sein Bekenntnis zu einem etwas eigenartigen Prophetentum: „Ich kann dem Menschen nicht helfen, sehr schwierige Lebensumstände überstehen zu können, aber ich muss, wenn Sie so wollen, ihn auf den Tod vorbereiten.“ In Cannes, wo er die Goldene Palme für das beste Drehbuch erhielt, löste Sokurows neuer Film vor einem Jahr Verunsicherung aus: Sokurows Verehrer waren von „Moloch“ enttäuscht, da der Film zu konventionell für die bislang radikale Poetik des Regisseurs schien. Für seine Gegner zeigte der Regisseur hingegen einmal mehr keine Kompromissbereitschaft, sich von dunklen, verzerrten Bildern und traumatisch langsamen Tempi zu trennen. Auch nicht von der rigorosen Abneigung gegenüber jeder Art von Genuss, den ein Filmerlebnis bereiten könnte, egal ob als Unterhaltung oder Kunst.

Das Kino ist und bleibt für Sokurow ein Raum für Meditationen über den Tod, sein ständiges Thema. Nun hat er es aus folgenden Komponenten zusammengestellt: ein Sommertag des Jahres 1942, eine Bergresidenz in den Voralpen, eine Frau und ein Mann, genannt Eva Braun und Adolf Hitler, umgeben von einer Suite makabrer Clowns und einer stummen Wache in SS-Uniform. Auch wenn die Beteiligten historisch verbürgte Namen tragen, erhebt der Film keinerlei Anspruch auf Authentizität. Irgendwann in der Mitte schauen sich die kostümierten Darsteller eine echte Wochenschau an und erkennen vergnügt mal „den Goebbels“, mal „den Führer“, die Leinwand wie Kinder abtastend und sich wenigstens einer materiellen Spur der Schatten vergewissernd.

Ansonsten betont Sokurow überdeutlich die Künstlichkeit der auf der Leinwand kreierten Welt: Das Modell der Burg, umhüllt von pyrotechnischem Nebel, erscheint wie Spielzeug; die artifiziellen Synchronstimmen der deutschen Darsteller (so auch in der russischen Fassung) in einem luftlosen Atelier trennen Körper von Stimmen; die Landschaft, in die sich die Schatten ein einziges Mal aus dem Atelier begeben, ist eine kahle Einöde aus Pappsteinen – in einem anderen Atelier aufgebaut. Allein Verzerrungen des Bildes oder des Tons sind real motiviert durch die Optik des Gewehrs, des Fernglases, der Lupe oder einer Grammophonnadel. All das bereitet den Zuschauer auf eine „Parabel nach Motiven der deutschen Geschichte“ vor. Goebbels würde, wenn er könnte, daraus einen „Roman zum nationalen Thema“ machen. Über Adi und Eva, über den Gotteskampf und die gesunde Erotik. So jedenfalls verkündet es der Liliputaner mit dem gealterten Kindsgesicht in der Rolle des Reichspropagandaministers.

Sokurow jedoch verwandelt den deutschen Roman in ein russisches Märchen von der Begegnung eines Mädchens (Eva) mit dem Tod namens Adolf. Es wird zunächst in einfachen visuellen Kontrasten ausgespielt: zwischen dem warmen nackten weiblichen Körper und dem kalten Stein von Hitlers Burg, zwischen verspielten Bewegungen und der toten Symmetrie des Interieurs. Zwischen dem schimmernden Weiß der Satinunterwäsche, der durchsichtigen blauen Seide des Kleides, dem sinnlichen Rosa des Fleischs einerseits und dem Schatten, eingemauert in der Uniform, dem Grau, mit dem alles im Film ausgemalt ist, andererseits. Die Burg ist zu einem Sarg stilisiert, zum Reich der Schatten – eine Nekropolis.

Hitler ist der Tod, in dessen Nähe alles zum Tod wird: Tiere, Pflanzen, Menschen, ein Moloch eben, dem Kinder geopfert werden. Sein Körper wird allein belebt durch Evas Erotik oder die Suite, in deren Umgebung Hitler sich in einen neurotischen Dekadenten der Jahrhundertwende verwandelt, der alle Modethemen von damals als unaufhaltsamen Wortstrom aus sich heraussprudeln lässt. Der Zusammenhang von Klima und Entartung (wie Nordau), Bestimmung des Weiblichen und Männlichen (wie Otto Weininger), starke Persönlichkeit und die Macht des Banalen (wie Nietzsche).

Bei Sokurow ist Hitler Vegetarier, Utopist und der größte Ästhet unter den Politikern. Der Krieg gegen Stalin wurde wegen eines Architekturbaus angefangen, den Krieg gegen Mussolini wird Deutschland wegen dessen Waldpflanzen führen müssen. Für den Regisseur ist nicht Hitler, sondern die Moderne selbst eine teuflische Verführung, die alle Utopien in die destruktive lebenszersetzende Antiutopie verkehrt, deren perfekte willenlose Marionette Hitler geworden ist. Wenn Evas Körper an die belebten Statuen aus Leni Riefenstahls Filmen erinnert, ist Hitler mit dem wagnerianischen Untergang verbunden, und der Film könnte eigentlich „Dämmerung des Willens“ heißen.

Eva wird allerdings vom Regisseur als eine subversive Kraft verstanden; ihre Rebellion gegen Modernität und Utopie wird als ein biologischer Protest des Lebens gegen den Tod aufgebaut und sogar politisch aufgewertet. Allein Eva traut sich das Wort Auschwitz auszusprechen, sie wird bespitzelt und beobachtet. Die Frage, warum das Leben (Eva) den Tod liebt, ignoriert der Film und bietet für die Beziehung Leben/Tod ein einfaches SM-Muster an: Eva tritt wie eine Domina auf und Hitler als ihr Sklave.

Die Beziehung des Tods zum Leben ist in diesem Film pragmatisch: So lange sie lebt, wird er siegen. Gleichzeitig versteht Sokurow die Beziehung Eva/Adi als eine Gegenüberstellung. Hier die schützende Kraft des Banalen (Kinder, Heim, Tradition), dort die dämonische Kraft der von einem Menschen ausgehenden Innovation. Darin knüpft er an die traditionell russische Verherrlichung der Demut und Verdammung des individuellen Willens: ein „russischer“ Film zum deutschen Thema.

Auch wenn Sokurow den gewohnten Kanon ästhetisierter Darstellung dieser Zeit meidet (der ja von Visconti, Fosse, Bertolucci, Cavani und Fassbinder etabliert wurde) kann er den Geist des Faschismus nur dort fassen, wo er die Geschichte in die Kunstform einschreibt. So sehen wir eine Serie von Projektionen – Bilder der von den Nazis verdammten Dekadenz und der von ihnen bevorzugten Kunst (Wagner, Breker, Riefenstahl). Bilder, die ein System von Rahmen schaffen, welche die Historie verdrängen, in dem sie sie in eine Kunstfabel einschreiben.

Diese Dokumentaraufnahmen sind abgekoppelt von der Realität, die Fiktion ist abgekoppelt von den Dokumentaraufnahmen, und so entsteht die Frage, ob Kunst kraftlos gegenüber der Realität ist oder diese dominiert. Sokurow schwört auf Letzteres, auch wenn er sich dadurch in eine gefährliche Nähe zu den Ansichten seines Protagonisten bringt und zu einem erklärten Antimodernisten, im Grunde jedoch verkappten Modernisten, stilisiert. Diese Vision wird wohl der zweite Teil von „Moloch“ untermauern, der Lenin gewidmet sein soll, dem anderen Utopisten des Jahrhunderts.

„Moloch“. Regie: Alexander Sokurow. Mit: Elena Rufanowa, Leonid Mosgowoi, Leonid Sokol, Elena Spiridonowa u.a., Russland/Deutschland 1999, 102 Min.

Hinweise:Nicht Hitler, die Moderne ist für Sokurov die teuflische Verführung, die Utopie in Antiutopie verkehrtEva Braun ist eine subversive Kraft, ihre Rebellion ein biologischer Protest des Lebens gegen den Tod