Notlösung „Einzelfall“

Die PDS drückt sich um die Diskussion. Ob neue Wirtschaftsordnung oder Außenpolitik: Die Partei entwickelt keine tragfähige linke Position. So fehlt die Alternative zu den Grünen
von SIBYLLE TÖNNIES

Auch diejenigen, die in der PDS nicht ihre politische Heimat haben, sind beunruhigt über die Vorgänge in dieser Partei. Denn ein links von den Grünen, die durch ihre Regierungsverantwortung geschwächt sind, agierender Flügel wird dringend gebraucht. Und wer wollte Gregor Gysi missen! Ohne ihn ist die PDS nichts. Aber auch die Politik insgesamt verliert mit ihm einen hervorragenden Kopf und eine Figur, auf die das Wort „charismatisch“ nicht verschwendet ist: Es bedeutet „bezaubernd“, und Gysi ist tatsächlich ein bezaubernder Mann. Es ist schade, wenn er sich in Zukunft als Anwalt für Privatinteressen einsetzt statt für das Allgemeinwohl – und bestünde es nur im Vergnügen des Fernsehpublikums.

Was dieses allgemeine Wohl im Übrigen denn wohl sein mag – darin ist man sich in der PDS nicht einig. Die Unreife der Debatte in der PDS aber ist eine Unreife der Auseinandersetzung über linke Politik überhaupt. Auch wenn man auf die PDS nicht mehr viel gibt, lohnt es sich deshalb, auf diese Debatte einen Blick zu werfen.

Da ist zunächst die Frage nach der richtigen Wirtschaftsform. Die PDS drückt sich um eine eindeutige Aussage, ob die sozialistische Zentralwirtschaft wieder eingeführt werden soll. Das ließe sich nur in Form einer Revolution erledigen – und zu ihr will man sich weder bekennen, noch will man von ihr ablassen. Dass der Name Bernstein in der Debatte nur zur Kennzeichnung eines Buhmanns auftaucht, zeigt an, dass man die alte Ächtung des „Revisionismus“ noch nicht aufgegeben hat – die Ächtung einer Haltung also, die den Kapitalismus nicht durch Revolution umstürzen, sondern durch Reform verändern will. Andererseits aber werden die Völker nicht mehr zum letzten Gefecht aufgerufen. Wären diese Linken doch jedenfalls noch insoweit Marxisten, dass sie die Frage, ob die Fabriken in öffentlichem oder in privatem Eigentum stehen sollen, als eine nach der „Basis“ ansähen, der gegenüber alle anderen Fragen nur „Überbau“ sind! „Hauptwiderspruch“ nannte man marxistisch die im Kapitalismus vorgenommene Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln, und demgegenüber schienen alle anderen Probleme „Nebenwidersprüche“ zu sein. Jetzt ist das Interesse an dieser basalen Frage so gering geworden, dass sie ungelöst liegen gelassen wird.

Die PDS hat allerdings gute Gründe, sie herunterzuspielen. Denn an ihr würde sich die Partei spalten. Die alten SED-Bestände sind nicht bereit und im Stande, sich von ihrem Ideal einer zentral gelenkten Wirtschaft zu lösen. Andererseits zeigen die Artikulationen der PDS ganz deutlich, dass keine Neigung besteht, noch einmal den Versuch zu machen, dieses Ideal in eine real existierende Gesellschaftsform umzusetzen. Die Unentbehrlichkeit des individuellen Egoismus als Triebkraft der Wirtschaft hat sich in dem Scheitern des sozialistischen Experiments zu deutlich erwiesen, als dass die Partei noch ernsthafte Anstrengungen machte, diese Triebkraft durch Enteignungen zu Gunsten des Staates auszuschalten. Sie umschifft das Problem mit der Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ – einer Forderung, die immer nur bei einzelnen Missständen ansetzen, nie aber die Wurzel des Übels anpacken kann.

Nur eine linke Partei, die sich offen für den Kapitalismus aussprechen kann, ist auch in der Lage, dessen Auswüchse zu bekämpfen, die sich gegen die soziale Gerechtigkeit richten. Solange der Kapitalismus nur halbherzig geduldet und nicht prinzipiell akzeptiert wird, kann er auch nicht wirksam gezähmt werden. Solange die PDS zwischen Sozialismus und Kapitalismus schwankt, wird sie keinen Anschluss an die weltweiten Anstrengungen bekommen, den Kapitalismus menschenfreundlich zu machen – sei es durch Regionalisierung, sei es durch globale Anti-Trust-Politik. Sie wird nur in Einzelfällen parteiliche Appelle zu Gunsten Benachteiligter machen können. Auf „Einzelfälle“ soll auch in der Außenpolitik ausgewichen werden. Auch hier soll individuell statt prinzipiell beurteilt werden – so jedenfalls will es der Parteivorstand. Die Frage, ob in Krisengebieten militärisch interveniert werden darf, soll nicht mehr generell verneint, sondern – soweit ein UN-Mandat vorliegt – von Fall zu Fall entschieden werden. Diesen Vorstoß des PDS-Vorstandes hat die Mehrheit der Parteitagsdelegierten verworfen, die einen prinzipiellen Pazifismus vertritt, der sich gegen jede Gewaltanwendung richtet. Dazwischen fand sich die Einzelmeinung, die zwar nicht militärisch, wohl aber polizeilich in Bürgerkriege eingreifen will. Hätte sich doch Daniela Dahn, die diesen dritten Standpunkt im Neuen Deutschland vertrat, mit der Parteiführung verbündet – statt sie zu bekämpfen! Denn auch Gysi will ja „im Einzelfall nicht militärisches, sondern weltpolizeiliches Vorgehen“ gutheißen.

Weder in der PDS noch anderswo wird der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Gewaltanwendung deutlich genug gesehen. Er besteht in der Zielsetzung: Das polizeiliche Vorgehen hat einen vorgegebenen Zweck – nämlich die Herstellung von Sicherheit und Ordnung. Militärisches Vorgehen hingegen ist eine Fortsetzung der jeweiligen Politik „mit anderen Mitteln“; das heißt: Seine Zielsetzung lässt sich auswechseln. Statt sich aber dieser zentralen Frage auf der ihr zukommenden theoretischen Ebene zu stellen, hat sich die PDS über unterschiedliche Gefühle zerstritten.

„Einzelfallentscheidung“ ist das Gegenteil von Recht; sie ist deshalb auch das Gegenteil von Völkerrecht, das nicht um der Prinzipienreiterei, sondern um der Rechtssicherheit willen eine feste Form braucht. Um einen weiteren Ausdruck Max Webers aufzugreifen, von dem auch der Begriff des „charismatischen Führers“ stammt: Die Entscheidung nach Einzelfällen ist „irrationale Kadijustiz“. Ebenso irrational ist der fundamental-pazifistische Gegenstandpunkt, den die Parteimehrheit vertritt. Sie will nicht wahrhaben, dass die Welt genau wie der Nationalstaat eine Polizei braucht, die den inneren Frieden bewacht. Das Weltgewissen ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass es massive Verstöße gegen die Menschenrechte auch dann nicht mehr duldet, wenn sie „in der hinteren Türkei“ (Goethe) vorkommen. Dem muss die Weltverfassung Rechnung tragen.

Diese beiden Fragen – die richtige Wirtschaftsform und das richtige Völkerrecht – fließen in einem Punkt zusammen: Sowohl die gebotene Kontrolle des Weltmarkts als auch die gebotene Einrichtung einer globalen Polizeigewalt laufen auf die Herausbildung eines Weltstaats hinaus. Denn auch wenn man sie so nicht nennen möchte: Eine Instanz, die diese Funktionen erfüllt, ist der Sache nach ein Staat. Auf dem Gebiet der Justiz kann man ja schon sehen, wie er sich etabliert.

Der Weltstaatsidee aber steht eine mächtige Phobie im Wege, die von Orwell und Huxley, von „1984“ und „Big Brother is watching you“ genährt wird. Es wird Zeit, dass eine linke Partei auf den Plan tritt, die diese Phobie überwindet. Vielleicht ersteht sie irgendwann aus den Trümmern der PDS.

Hinweise:„Charismatisch“ bedeutet „bezaubernd“ – und Gysi ist bezauberndWer den Kapitalismus nicht akzeptiert,kann ihn auch nicht zähmen