Die Inflation lebt weiter

Neue Ökonomie – die Geldentwertung findet nicht mehr beim realen Geld statt, sondern bei den Aktienwerten: Unrealistische Erwartungen treiben die Kurse, es entsteht eine Spekulationsblase

von HANNES KOCH

Angeblich ist die Inflation seit Jahren tot. Dass es eine Geldentwertung wie noch in den 70er-Jahren nicht mehr gibt – und nicht mehr geben kann –, gehört zum Credo der „Neuen Ökonomie“. Seit mehr als neun Jahren läuft der Wirtschaftsboom in den USA, und trotzdem liegt die Inflation dort seit 1991 im Wesentlichen unter drei Prozent. Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern scheint die Geldentwertung gebändigt, seit die Bundesbank eine Politik des knappen Geldes verfolgt und der Maastricht-Vertrag eine für alle EU-Mitglieder verbindliche Inflationsrate von höchstens zwei Prozent jährlich vorschreibt.

Doch Eindruck und offizielle Statements von Ökonomen und Regierungen täuschen: Die Inflation lebt. In manchen Monaten erfreut sie sich größter Energie – nicht auf der Ebene des realen Geldes, wohl aber bei den Aktienwerten. Alleine von Sommer 1999 bis März 2000 stieg der Deutsche Aktienindex (DAX), der durchschnittliche Kurswert der der 30 größten Unternehmen des Landes, um fast 60 Prozent. Die Werte der jungen Aktiengesellschaften am Neuen Markt der Frankfurter Börse legten im selben Zeitraum durchschnittlich um mehr 150 Prozent zu.

„Die Aktienkurse sind inflationär aufgebläht“, sagt Ökonom Oscar-Erich Kuntze vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Dazu kam es im Windschatten der Politik der Inflationsbekämpfung, die ihr Augenmerk ausschließlich auf die mögliche Entwertung beim realen Geld legte. Das, was landläufig als „Spekulationsblase“ an den Börsen bezeichnet wird, heißt im Fachjargon „Asset Price Inflation“.

Nicht nur die übersteigerten Hoffnungen und unrealistischen Gewinnerwartungen der AnlegerInnen in Bezug auf viele Internet-Firmen trieben die Preise hoch – es wurde auch tatsächlich mehr Geld an den Börsen investiert. Alleine zwischen 1995 und 1998 verdoppelte sich das US-amerikanische Börsenkapital – und die größere Nachfrage ließ die Kurse steigen. Wolfgang Schrettl, Ökonom beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), nimmt an, dass „die expansive Geldpolitik der US-amerikanischen Zentralbank eines der Elemente war“, das diesen Effekt hervorgerufen hat.

Unter anderem im Jahr 1999 tolerierte die US-Nationalbank FED eine im Vergleich zum Wirtschaftswachstum größere Zunahme der Geldmenge als etwa die Bundesbank. Die Summe des umlaufenden Geldes nahm in den USA zeitweise um bis zu zehn Prozent zu. Gleichzeitig hielt die FED die Zentralbank-Zinsen relativ niedrig – obwohl die Geschäftsbanken in den USA jede Menge Kredite an die privaten VerbraucherInnen und die Unternehmen ausgaben und damit die Summe des umlaufenden Geldes weiter erhöhten. Ist der Zentralbank-Zinssatz gering, können sich die Geschäftsbanken billiger Geld besorgen und sind deshalb geneigt, mehr Kredite an ihre Kundschaft auszuleihen.

Die von der Ebene des Geldes zu den Aktienwerten „verlagerte Inflation“ sieht auch Hubert Strauß vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Neben den „massiven Kapitalimporten in die USA“ nennt er als Grund für den Börsenboom die „private Geldschöpfung in zweistelliger Höhe“. So nahm das Vermögen der US-Haushalte zwischen 1995 und 1999 um mehr als ein Drittel auf rund 35 Billionen US-Dollar zu. Dieses Phänomen macht Ökonomen und Wirtschaftspolitikern allmählich erhebliche Sorgen.

Weil die US-Geschäftsbanken in der Hoffnung auf hohe Renditen und steigende Kurse dreimal mehr Kredite als noch vor drei Jahren an ihre KundInnen ausliehen, damit diese Aktien kaufen konnten, nimmt auch die Gefahr wirtschaftlicher Probleme zu.

„Es könnte zu einer kumulativen Bewegung nach unten kommen“, befürchtet Wolfgang Schrettl. Sinken die überbewerteten Kurse vieler Unternehmen über längere Zeit ähnlich dramatisch wie beim Einbruch der US-amerikanischen High-Tech-Börse Nasdaq Mitte April, können viele Klein- und Neuaktionäre ihre Kredite nicht zurückzahlen, werden zu Privat-Bankrotteuren und müssen ihre Konsumausgaben einschränken.

Beim Börsencrash 1987 hielten sich die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen noch halbwegs in Grenzen, weil erst ein Viertel der US-Haushalte Aktien besaß. Heute sind es dagegen etwa die Hälfte. Treten 50 Prozent der US-Bevölkerung auf die Ausgabenbremse, könnte das in eine scharfe Rezession führen – denn die Unternehmen würden den Abwärtssog verstärken, indem sie ihre Investitionen kürzen.

Bei der verlagerten Inflation und ihren möglichen ökonomischen Folgen handelt es sich um das Ergebnis eines klassischen Zielkonfliktes. FED-Präsident Alan Greenspan versorgte die US-Ökonomie in den vergangenen Jahren mit frischem Geld und legte damit eine Basis für die lang anhaltende Konjunktur. Nun erhöht er allmählich wieder die Leitzinsen, weil die Inflation wieder in den Vordergrund tritt – nicht nur bei den steigenden Verbraucherpreise, sondern auch bei den überhitzten Börsenkursen.

Die Versorgung mit Zentralbankgeld stellt freilich nur einen Aspekt dar. Größere Mengen des Geldes, das den Börsenboom speiste, stammte von Pensionsfonds, die in den USA vielfach per Aktiengeschäfte die Rentenzahlungen organisieren. Diese Fonds verfügen heute mit rund zehn Billionen US-Dollar über fast die doppelte Summe wie fünf Jahre zuvor. Eine dritte Quelle findet sich bei den Unternehmen, die während der konservativen Ära erhebliche Gewinne einfuhren, von denen nur ein Teil in Investition und Produktion floss. Bei deutschen Betrieben etwa reduzierte sich von 1971 bis 1996 der Anteil der Sachanlagen an der Bilanz von 36,3 auf 24,3 Prozent. Im selben Zeitraum stieg der Anteil von Wertpapieren und Beteiligungen von 6 auf über 14 Prozent.