: Hacker haben auch Gefühle
Arschbacken, Attachments, Anschlusskörper: Im Podewil eröffnete das Live-Art- und Performance-Festival „reich & berühmt“ parallel zum Theatertreffen
Jugendsendungen im Fernsehen, das bestätigen Medienanalysen jedes Jahr aufs Neue, werden vorwiegend von älteren Menschen geguckt. Im Theater, wo man wie in den meisten künstlerischen und akademischen Bereichen der Zweidrittelgesellschaft die Jugend vorsichtshalber von vornherein auf etwa 35 Jahre ausgedehnt hat, ist das keineswegs der Fall.
Erstklassig beobachten kann man das dieser Tage in Berlin. Während bei den Veranstaltungen des Theatertreffens – für das fünf Journalisten die „bemerkenswertesten“ Inszenierungen des deutschsprachigen Raums ausgesucht haben und überraschenderweise bis auf eine Ausnahme nur im Staatstheaterbetrieb fündig wurden – bloß vereinzelt Besucher unter 35 zu sichten sind, hatte man bei der Eröffnung des „reich & berühmt“-Festivals am Mittwoch im Podewil den Eindruck, über 40 sei der Zutritt verboten. Außer natürlich für Produzenten auf Frischfleischsuche.
Wie seit 1996 jedes Jahr im Mai zeigt „reich & berühmt“ kleine Produktionen junger (s. o.) Künstler, deren Theater dem Performance- und Live-Art-Bereich nahe steht oder darin aufgeht. Anders als das Theatertreffen präsentiert das von Aenne Quiñones und Kathrin Tiedemann konzipierte Programm nicht nur, sondern produziert bzw. koproduziert seinem Selbstverständnis als „Theaterwerkstatt“ entsprechend auch. An vier der neun bis zum 20. Mai zu sehenden Performances ist das Podewil beteiligt: an Otmar Wagners „Inventur debil“, Katka Schroths „Gott ist ein DJ“, den „Blow up Faust 2000“-Showings sowie an René Polleschs „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“, dessen Uraufführung „reich & berühmt 2000“ eröffnete.
Pollesch, der Anfang der Neunziger am Frankfurter TAT inszenierte und seit letztem Sommer fest am Luzerner Theater arbeitet, hat sich bereits 1999 mit „Heidi Hoh“ einen Fanklub in Berlin erspielt. In der Zwischenzeit ist er nicht reich, wohl aber berühmt geworden: Tom Stromberg, künftiger Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, hat Pollesch als Hausautor verpflichtet.
Nicht ganz so viel Glück hatte indes seine Figur Heidi Hoh. Bereits 99 verdammt verzweifelt, da als Tele-Heimarbeiterin nicht mehr in der Lage, Gefühls- und Arbeitswelt auseinander zu dividieren, hat ihr der neue Job als Mietwagenhostess in L. A. offenbar nicht geholfen, sich selbst lieb zu haben. Das Zuhause ist kein freundlicher Ort, und deswegen arbeitet sie da nicht mehr. Die Idee mit dem Nebenjob in L. A., der einen sonnigen Lebensstil finanziert, ging aber auch nicht auf, denn im Toyota-Showroom führt man keinen sonnigen Lebensstil.
Gerecht ist das nicht: Jetzt gibt es endlich eine virtuelle Welt, aber Heidi hat schon wieder eine Scheißadresse. Auf die Arschbacke ihres obdachlosen Anschlusskörpers hat sie ein @ tätowiert, aber, das bezeugen ihre ebenfalls ausgebrannten Freundinnen: Man darf sich nicht allzu tief in Verhältnisse stöpseln, die man ablehnt. Wirklichkeitsräume brauchen eine engagierte Hackergeneration.
Drei Darstellerinnen sitzen auf der mit diversen Hipness-Acessoires ausgestatteten Bühne (Singles! Japan! Comics!) und lassen den Text aus ihren Mündern fließen wie aufgezogene Puppen. In unregelmäßigen Abständen brüllt eine, dann gibt es Speed oder Easy-Listening. Man könnte sich ärgern über die ewig gleichen Versatzstücke des neuen Performance-Theaters, doch Polleschs Text ist zu gut. Die Wortkaskaden schreiben eine kleine Ontologie des 21. Jahrhunderts; die immanente Kapitalismus-/Technologiekritik ist komisch formuliert, ohne komplett in Ironie oder Zynismus abzudriften. „Irgendeinen Aktionsraum“, schreit Heidi, „muss Verzweiflung doch haben.“ Vielleicht hat Pollesch nicht die differenzierteste Hand beim Inszenieren, sein Text aber ist ein überzeugendes, komplexes Gewebe der Wirklichkeitsanalyse. CHRISTIANE KÜHL
Theaterwerkstatt „reich & berühmt“ bis 20. 5. im Podewil, Klosterstr. 68–70; „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“ bis 14. 5. jeweils 20 Uhr
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