Großwildjagd im subkulturellen Zoo

■ Im Atrium spielte das Ensemble des Jungen Theaters Mark Ravenhills kapitalismuskritisches Kultdrama „Shoppen & Ficken“

Hip ist, was kaputt ist. Auf der Bühne des hohen Hauses in Hamburg sangen in der letzten Weihnachtszeit drei Dutzend zahnlose Original-Penner so herzergreifend „Wir sind auch ehrliche Leut'“, dass es bekennenden Alt-68ern das Wasser in die Augen trieb. Junge französische DramatikerInnen wie Catherine Anne oder Lionel Spycher werden gefeiert, weil in ihren Stücken verwahrloste Kids so au-thentisch von religiösen Kreuzzügen derilieren. Und im Kino mutieren Filme wie „Pulp Fiction“ oder „Trainspotting“ gerade deshalb zu Kultstreifen, weil sich debile Schläger, zugedröhnte Psychopathen und was an fertigem Volk noch so denkbar ist, hier ein blutig-ekliges Stelldichein geben.

Fehlt neben der irischen Schockdramatikerin Sarah Kane nur noch einer in dieser täglich erweiterbaren Aufzählung: Mark Ravenhill. Mit dem trashigen Schmuddelstück „Shoppen & Ficken“ feierte der inzwischen 33-Jährige Mitte der 90er Jahre in London einen Megaerfolg, das inzwischen seine Rundreise durch Deutschlands Stadttheater angetreten hat und nun auch in einem Nebengebäude des anmutig gammeligen Hofs hinter dem Steintor-Feinkostladen Atrium seine Bremer Premiere feierte.

Das zurzeit spielstättenlose Ensemble des Jungen Theaters hat sich an ungewöhnlichem Ort unter der Regie von Carsten Werner an Ravenhills wüster Collage im Dienste der Kapitalismuskritik versucht. Zweieinhalb Stunden lang gibt es auf der beengten, durch ein Rollo in einen schmalen Vorder- und einen etwas größeren Hinterraum geteilte Bühne einen Parforceritt durch jene Probleme zu sehen, die den SozialarbeiterInnen dieser auf den Hund gekommenen Welt ihr täglich Brot sichern.

Drogenwahn und Telefonsex, Vergewaltigung und Schwulenstrich, blutige Massaker, Liebeskummer und sexueller Missbrauch eines Schutzbefohlenen vermengen sich in rascher Szenenfolge mit dem Dancefloor-Sound der 90er und eingespielten Videoclips zu einem Panoptikum großstädtischer Verzweiflung. Lulu (Anja Wedig) und Robbie (Erkan Altun) haben jede Menge Schulden beim fiesen Drogenhändler und ideellen Gesamtkapitalisten Brian (Mateng Pollkläsener), weil Robbie in einem ziemlich guten Augenblick eine Riesenportion Ecstasy-Pillen umsonst unters Volk gebracht hat. Während das Duo es zwecks Schuldenabbaus in Puschelpantoffeln via Sextelefon den Hormongepeinigten besorgt, sucht ihr Freund Mark (Carsten Goldbeck) nach einer Entziehungskur inmitten dieser kaputten Welt das gute, selbstbestimmte Leben, wie es ihm die Therapeuten in ihren Lehrbuchfloskeln vorgebetet haben. Er trifft auf den 14-jährigen Gary (Denis Fischer), einen ziemlich fertigen Stricher. Der von seinem Stiefvater regelmäßig miss-handelte Junge findet im exzessiven Shoppen Halt und träumt davon, dass ihn ein großer Beschützer mittels anal eingeführtem Küchenmesser beweist, wie lieb er ihn hat. In einer beklemmend langen, äußerst gewalttätigen Szene erfüllt Mark ihm den tödlichen Wunsch. Zurück bleibt die totale Desillusion und eine kalte Rede des Großkapitalisten Brian, der den Lauf dieser Welt auf die Formel „Geld ist Zivilisation“ und andersrum bringt.

All das klingt nicht nur so, als habe ein von Großkonzern-Marketingkampagnen umzingelter, wütender Jungdramatiker sich den spätkapitalistischen Frust von der Seele geschrieben. Die Figuren sind durchweg schrill, eindimensional und zum Teil grotesk überzeichnet. Wütend brüllen oder verzweifelt heulen, hektisch kreischen oder gequält lamentieren – in genau diesen Stimmungsextremen spielt sich ein Großteil des dramatischen Bühnengeschehens ab.

Ravenhills Analyse ist eher brachial als genau, hofft nicht auf Mitleid, sondern sucht im Befremden und im Widerwillen des Betrachters im Angesicht des verletzenden Geschehens das Potential zum Widerstand. Genau das aber funktioniert allenfalls partiell. Denn nicht nur kaltherzige Großkapitalisten verfolgen das Stück mit zunehmender Dauer eher aus zoologischem Interesse am Subkulturellen und weniger mit gesellschaftskritischem Impetus.

Allein Brian und Gary, den beiden ungekrönten Hauptfiguren des Stücks, gelingt es dank ihrer bemerkenswerten Darsteller, den lähmenden Schematismus ihrer Charaktere zu durchbrechen. So spielt Mateng Pollkläsener seine Figur Brian als abstoßend-einnehmende Mischung aus schwermütigen gütigem Lehrer und unwiderstehlichem dämonischen Visionär, der in verbalen Stahlgewittern die Heilslehren des Raubtierkapitalismus auf die Köpfe niederprasseln lässt. Den dramatischen Gegenpart dazu verkörpert der herausragende Denis Fischer in der Rolle des androgynen Strichers Gary. Seine aggressive Erotik, sein zugleich schamloses wie verletzliches Spiel, das in der schockierenden Opferszene am Schluss des Stücks kulminiert, machen allein einen Besuch von „Shoppen & Ficken“ trotz mancher Abstriche sehenswert.

Franco Zotta

Weitere Vorstellungen von „Shoppen & Ficken“: bis zum 4. Juni von mittwochs bis sonntags (außer 17. Mai) um 20.30 Uhr im Atrium, Vor dem Steintor 34. Karten: 700 141 oder unter: JungesTheaterBremen§t-online.de per Mail