Der Zug nach Polen ist abgefahren

In Berlin bemüht man gerne den Standort als Tor zum Osten. Doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Auf ihrem Weg in die polnische Hafenstadt Szczecin müssen Reisende ab dem 28. Mai sogar noch in eine Regionalbahn umsteigen

von UWE RADA

Solche Töne ist man von ihm gewohnt. Die Hauptstadt habe ein großes Interesse am raschen Beitritt Polens zur Europäischen Union, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Anfang der Woche in Warschau. Anlässlich der Eröffnung der „Berlin-Tage in Warschau“ versprach Eberhard Diepgen dem polnischen Staatspräsidenten Alexander Kwasniewski, „eine Reihe von Themen kontinuierlich voranzubringen“. Das gelte besonders für die Erweiterung des grenzüberschreitenden Verkehrs, die Verbesserung des Flugnetzes und nicht zuletzt den Ausbau des Schienenverkehrs.

Ganz europäischer Diplomat, bedankte sich Kwasniewski beim Staatsgast aus dem Nachbarland. Doch auf polnischer Seite gibt es auch Verärgerung. Einer der Gründe: Zum Fahrplanwechsel am 28. Mai stellt die Bahn AG gleich mehrere Züge nach Polen ein, darunter auch den Interregio „Mare Balticum“, die einzige Direktverbindung von Berlin über Szczecin (Stettin) nach Gdańsk (Danzig), mit Kurswagen nach Kaliningrad. Die Verbindung zwischen der deutschen Hauptstadt und der ihr nächstgelegenen Großstadt Szczecin mit immerhin 450.000 Einwohnern wird dann über eine Regionalbahn abgewickelt, auf die der Reisende in der uckermärkischen Kleinstadt Angermünde umsteigen muss. (siehe Kasten)

Große Töne hat man in Berlin nach dem Fall der Mauer schon immer von sich gegeben. An kaum einer Stelle freilich zeigt sich die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit so deutlich wie in der Funktion Berlins als Ost-West-Drehscheibe, als „Gateway“ nach Mittel- und Osteuropa, als Bindeglied der EU zu ihren Beitrittskandidaten. Zwar wird der Regierende Bürgermeister nicht müde, den wachsenden Warenaustausch zwischen der Bundesrepublik und Polen zu betonen. Was er jedoch verschweigt ist die Tatsache, dass ein Großteil dieses Handels an der Spree vorbeigeht. Das Gleiche gilt auch für die Verkehrsverbindungen. Nicht die Berliner Airports sind die Drehkreuze nach Warschau oder Riga, sondern Frankfurt/Main, Kopenhagen oder Prag. Und während in der ehemaligen DDR das Know-how für die wirtschaftlichen Beziehungen mit Osteuropa abgewickelt wurde, profitieren nun andere Städte wie Prag, Budapest oder Wien. Längst haben diese Kapitalen die deutsche Hauptstadt als Scharnier zwischen West und Ost überflügelt.

Auch Elmar Pieroth ist um große Worte nicht verlegen. „Der EU-Beitritt osteuropäischer Länder“, freut sich Pieroth, „ist die größte Entwicklungschance Berlins seit dem Mauerfall.“ Als ehemaliger Finanzsenator hatte der CDU-Politiker den Berlinern das finanzielle Desaster im Landeshaushalt verschwiegen. Als Osteuropabeauftragter des Berliner Senats ist Pieroth wieder optimistisch wie eh und je. Die Tatsache, dass in Berlin 200.000 Menschen aus Osteuropa leben, meint Pieroth, ist ein Vorteil, den Frankfurt am Main nicht habe. Bislang indes zeigt sich die Drehscheibenfunktion Berlins vor allem im Beitrag, den polnische Billiglohnarbeiter für den Aufbau der Stadt geleistet haben.

Wenn es darum geht, seinen Worten Taten folgen zu lassen, zeigt sich Pieroth ebenso hilflos wie der Regierende Bürgermeister. Während deutsche Wirtschaftsvertreter in Gdańsk oder Szczecin gegen die Einstellung der Bahnverbindung nach Nordostpolen protestieren, war von Pieroth dazu kein Wort zu hören. Er agiere, so hieß es, auf diplomatischem Parkett. Offenbar ohne Erfolg.

Diese Erfolglosigkeit hat System. Für mittel- und langfristige Konzeptionen, für die Aufrechterhaltung und den Ausbau der Verkehrsverbindungen fühlt sich das Büro des Osteuropabeauftragten jedenfalls nicht zuständig. Gleiches gilt für den Berliner Wirtschaftssenator Wolfgang Branoner (CDU), der von der Bahn AG nicht einmal über die Streichung des Interregio „Mare Balticum“ informiert worden war. Zwar räumt man im Hause des Wirtschaftssenators die „schlechte Signalwirkung“ einer solchen Einstellung ein, verweist aber zugleich auf die Zuständigkeit der Verkehrsverwaltung. Aber auch Verkehrssenator Peter Strieder (SPD), der sich in der vergangenen Woche ebenfalls in Warschau aufhielt, hält es lieber mit Worten als mit Taten. Er eröffnete in der polnischen Hauptstadt eine Ausstellung mit dem sinnfälligen Titel „Ansichten einer Metropole – Berlin 1989 – 1999“.

Unter der Hand aber weiß man in der Berliner Verwaltung um das Dilemma einer Drehscheibe ohne Dreh. „Für die Bahn AG mag die Einstellung einer Zugverbindung eine betriebswirtschaftliche Rechnung sein, für Berlin ist das aber ein großes Problem“, meint ein Mitarbeiter der Verkehrsverwaltung, der nicht namentlich genannt werden möchte. Für den Standort Berlin sei es schon ein Erfolg, den Status quo zu halten. „Die Funktion einer Drehscheibe erfordert aber weitaus mehr, zumal der EU-Beitritt Polens bevorsteht.“ Dazu gehörten nicht nur Straßen-, sondern auch Schienenverbindungen. Zwar sei die Verbindung Berlin – Warschau oder Berlin – Prag in der Vergangenheit ausgebaut worden. Der Süd- und der Nordosten Polens seien aber noch immer ein Problemfall. Und die Bahnfahrt von Berlin in die boomende lettische Metropole Riga sei gar „ein Abenteuer“.

„Berlin ist da, wo die Verbindungen zusammenlaufen oder wo sie ihren Ausgang nehmen. Die Kursbücher, in denen das verzeichnet ist, sind Dokumente von historischem Rang. Mit jedem Fahrplanwechsel lässt sich messen, ob Entfernungen verkürzt werden oder Nachbarstädte auseinanderrücken.“ Der das schreibt, ist Klaus Schlögel, Professor für osteuropäische Geschichte an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt (Oder) und einer der entschiedensten Protagonisten eines „osteuropäischen Berlins“. So euphorisch er sich darüber freut, dass „Mitteleuropa in Berlin über große Entfernungen hin den Kontakt nach Eurasien“ halte, so muss er doch auch feststellen, dass die Hauptstadt zehn Jahre nach dem Fall der Mauer noch immer zweierlei Tempi unterworfen ist: „In Berlin Zoo gehen die Hochgeschwindigkeitszüge nach Westen ab, aus Lichtenberg fahren die Züge nach Osten, die noch ganz dem Vor-ICE-Zeitalter angehören“. Weniger poetisch gesprochen heißt das, dass selbst die Eurocity-Verbindung nach Warschau, für die der Reisende sechs Stunden braucht, eine Höchstgeschwindigkei von 160 Kilometern pro Stunde nicht überschreitet. Noch vor drei Jahren hatte die Bahn das ambitionierte Ziel verfolgt, die Strecke in die polnische Hauptstadt in viereinbalb Stunden bewältigen zu können.

Ausgerechnet in Potsdam weiß man, was das bedeutet. Hier, am Sitz der gemeinsamen Landesplanung Berlin-Brandenburg, beschäftigt man sich auch mit den Themen der Zukunft. Und man weiß, dass diese Zukunft nicht nur Europa, sondern vor allem Osteuropa heißt. Entsprechend werden hier die grenzüberschreitenden Programme der EU betreut. Eines davon ist das mit vier Millionen Mark geförderte Programm „Waterfront Urban Development“. Hier soll in einem „Netzwerk von Städten“ rund um die Ostsee der Aufschwung über die Konversion ehemals industriell genutzter Flächen am Wasser geprobt werden. Doch ab Ende Mai werden die Akteure der „Waterfront“ ein Problem haben: Schließlich gehören neben Berlin auch die polnischen Städte Szczecin, Koszalin, Gdynia, Gdańsk und Elbląg zu den Programmen – allesamt Städte also, die der Interregio „Mare Balticum“ miteinander verbindet.

So bleibt das Tor zum Osten, jene Metapher für die wirtschaftliche Zukunft Berlins, auch künftig eine Einbahnstraße. Vielleicht hätte der Regierende Bürgermeister dem polnischen Staatspräsidenten statt blumiger Worte dafür danken sollen, dass Berlin ohne die polnischen Bauarbeiter und Putzfrauen noch provinzieller wäre, als es ohnehin ist.